Höhenangst
Konferenzschaltung auf dem Programm, und er wollte noch ein paar Dinge mit mir durchgehen.
»Ich bin heute ein bißchen im Streß, Mike. Ich muß zu einer Besprechung.«
»Mit wem?«
Einen Moment lang überlegte ich, ob ich behaupten sollte, daß ich mich mit jemandem aus dem Labor träfe, aber ein Aufflackern von Überlebensinstinkt hielt mich davon ab.
»Es ist etwas Privates.«
Er zog eine Augenbraue hoch.
»Ein Vorstellungsgespräch?«
»In diesem Aufzug?«
»Du wirkst tatsächlich ein bißchen verknittert.« Er fragte nicht weiter nach. Wahrscheinlich nahm er an, daß es sich um eine Frauensache handelte, irgend etwas Gynäkologisches. Aber er ging auch nicht wieder. »Es dauert bloß eine Sekunde.« Er ließ sich mit seinen Unterlagen, die er Punkt für Punkt durchgehen wollte, nieder. Eine oder zwei Sachen mußte ich überprüfen und wegen einer dritten jemanden anrufen. Ich schwor mir selbst, kein einziges Mal auf die Uhr zu sehen. Es spielte sowieso keine Rolle. Schließlich ergab sich eine Pause, und ich sagte, daß ich nun aber wirklich gehen müsse.
Mike nickte. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr.
Vierundzwanzig Minuten nach sechs. Fünfundzwanzig.
Ich beeilte mich nicht, nicht einmal, nachdem Mike weg war. Auf dem Weg zum Aufzug durchströmte mich ein Gefühl der Erleichterung, weil sich das Problem von selbst gelöst hatte. Es war am besten so. Ich mußte das Ganze möglichst schnell vergessen.
Ich lag schräg auf dem Bett. Mein Kopf ruhte auf Adams Bauch. Er hieß Adam. Das hatte er mir auf der Herfahrt im Taxi erzählt. Sonst hatte er fast nichts gesagt. Mir lief der Schweiß übers Gesicht. Ich schwitzte am ganzen Körper: am Rücken genauso wie an den Beinen. Sogar mein Haar war naß. Und ich spürte den Schweiß auf seiner Haut. In seiner Wohnung war es so heiß. Wie konnte es im Januar überhaupt irgendwo so heiß sein? Der kalkige Geschmack in meinem Mund wollte nicht vergehen. Ich setzte mich auf und sah ihn an. Seine Augen waren halb geschlossen.
»Ist irgendwas zu trinken da?« fragte ich.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er schläfrig. »Warum siehst du nicht einfach nach?«
Ich stand auf und hielt nach etwas Ausschau, das ich mir um den Körper wickeln konnte, aber dann dachte ich: Warum eigentlich? Es war eine sehr kleine Wohnung.
Neben diesem Raum, in dem sich außer dem Bett fast keine anderen Möbel befanden, gab es nur noch das Bad, wo ich an diesem Tag bereits geduscht hatte, und eine winzige Küche. Ich öffnete den Kühlschrank. Ein paar halb ausgedrückte Tuben, ein paar Gläser, ein Karton Milch. Keine anderen Getränke. Inzwischen war mir kalt.
Auf einem Regal entdeckte ich einen Karton Orangensaft.
Verdünnten Orangensaft hatte ich zum letztenmal als Kind getrunken. Ich fand ein Glas, mischte ein wenig Saft mit Wasser und trank in großen Schlucken. Dann schenkte ich mir noch einmal ein Glas ein und nahm es mit zurück ins Schlaf- oder Wohnzimmer – was immer es war. Adam saß inzwischen gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt.
Offenbar hatte er die ganze Zeit auf die Tür gestarrt und auf mich gewartet. Er lächelte nicht, sondern starrte bloß auf meinen nackten Körper, als müßte er ihn sich einprägen. Ich lächelte ihn an, aber er erwiderte mein Lächeln nicht. Ein Gefühl tiefer Freude stieg in mir auf.
Ich ging zu Adam und hielt ihm das Glas hin. Er nahm einen kleinen Schluck und gab mir das Glas zurück. Ich nahm ebenfalls einen kleinen Schluck und hielt es ihm von neuem hin. Nachdem wir das Glas auf diese Weise gemeinsam geleert hatten, lehnte er sich über mich und stellte das Glas neben dem Bett ab. Die Bettdecke war auf den Boden gerutscht. Ich zog sie hoch und deckte uns damit zu. Dann ließ ich den Blick durch den Raum schweifen. Die Fotos auf der Kommode und dem Kaminsims waren lauter Landschaftsaufnahmen. Im Regal standen ein paar Bücher, deren Titel ich nacheinander studierte: mehrere Kochbücher, ein großer Kunstband über Hogarth, die gesammelten Werke von W. H. Auden und Sylvia Plath. Eine Bibel. Sturmhöhe, ein paar
Reiseberichte von D. H. Lawrence. Zwei Bände über britische Feldblumen. Ein Band über Touren durch und um London. Ein Stapel Reiseführer. An einer Kleiderstange hingen ein paar Klamotten, ein paar andere lagen ordentlich zusammengefaltet auf dem Korbstuhl neben dem Bett: Jeans, ein Seidenhemd, eine weitere Lederjacke, T-Shirts.
»Ich versuche gerade herauszufinden, wer du bist«, sagte ich. »Indem ich mir
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