Höhenangst
zweite Portion. Sie mag mich lieber als Jakes frühere Freundinnen, weil ich für gewöhnlich großen Appetit habe und mehrere Stücke ihres Schokoladenkuchens verschlinge. Ich spießte ein Stück Auflauf auf, schob es mir in den Mund und begann entschlossen zu kauen.
»Doch«, antwortete ich, nachdem ich es hinuntergeschluckt hatte. »In den letzten Tagen hatte ich wohl einen leichten Anflug von Grippe, aber inzwischen geht es wieder.«
»Meinst du, du bist fit genug für heute abend?« fragte Jake.
Ich sah ihn fragend an. »Du Schussel hast natürlich wieder vergessen, daß wir mit den anderen beim Inder verabredet sind. Drüben in Stoke Newington. Hinterher steigt irgendwo eine Party, falls uns nach Tanzen zumute ist.«
»Großartig«, erwiderte ich.
Ich knabberte an meinem Knoblauchbrot. Jakes Mutter beobachtete mich.
Nach dem Essen brachen wir alle zusammen zu einem gemütlichen Spaziergang im Richmond Park auf, wo wir zwischen Herden zutraulicher Rehe dahinschlenderten.
Als es dunkel zu werden begann, fuhren Jake und ich nach Hause. Während er noch einmal loszog, um Milch und Brot zu kaufen, kramte ich in meiner Tasche nach der alten Interflora-Visitenkarte, auf deren Rückseite ich Adams Nummer notiert hatte. Ich ging zum Telefon, nahm den Hörer ab und wählte die ersten drei Zahlen. Dann legte ich wieder auf. Schwer atmend stand ich über das Telefon gebeugt. Ich zerriß die Karte in viele kleine Fetzen und warf sie ins Klo. Ein paar von den Stückchen widersetzten sich der Spülung. In einem Anfall von Panik füllte ich einen Eimer mit Wasser und spülte sie auf diese Weise hinunter. Im Grunde hätte ich mir das Ganze sparen können, weil ich die Nummer längst auswendig wußte. In dem Moment kam Jake zurück. Pfeifend stieg er mit seinen Einkäufen die Treppe herauf. Schlimmer als jetzt kann es nicht werden, sagte ich mir. Jeden Tag wird es ein bißchen besser werden. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Als wir beim Inder eintrafen, waren die anderen schon da.
Sie hatten eine Flasche Wein und mehrere Gläser Bier auf dem Tisch stehen. Im Kerzenlicht wirkten ihre Gesichter fröhlich und weich.
»Jake, Alice!« rief Clive vom einen Ende des Tisches zu uns herüber. Jake und ich quetschten uns nebeneinander ans andere Ende, aber Clive winkte mich zu sich.
»Ich habe sie angerufen«, sagte er.
»Wen?«
»Gail«, antwortete er leicht entrüstet. »Sie hat meine Einladung angenommen. Wir treffen uns nächste Woche auf einen Drink.«
»Na siehst du«, sagte ich und zwang mich, so zu tun, als würde ich mich prächtig amüsieren. »Vielleicht sollte ich in Zukunft als freiberufliche Kummertante mein Brot verdienen.«
»Ich wollte sie schon fast für heute abend einladen. Aber dann dachte ich, die Crew könnte beim ersten Treffen ein bißchen viel für sie sein.«
Ich warf einen Blick in die Runde.
»Manchmal habe ich das Gefühl, die Crew ist sogar für mich ein bißchen zuviel.«
»Jetzt hör aber auf. Du bist doch die Seele jeder Party!«
»Ich frage mich, warum das in meinen Ohren so schrecklich klingt.«
Ich saß neben Sylvie. Gegenüber saß Julie mit einem Mann, den ich nicht kannte. Rechts von Sylvie befand sich Jakes Schwester Pauline mit Tom, ihrem neuen Ehemann.
Die beiden waren noch nicht lange verheiratet. Pauline fing meinen Blick auf und begrüßte mich mit einem Lächeln. Sie ist wahrscheinlich meine beste Freundin, und ich hatte die letzten paar Tage versucht, nicht an sie zu denken. Ich erwiderte ihr Lächeln und begann, in irgend jemandes Zwiebelbhaji herumzustochern. Dabei versuchte ich, mich auf das zu konzentrieren, was Sylvie mir erzählte. Es ging dabei um einen Mann, mit dem sie sich in letzter Zeit häufig getroffen hatte, genauer gesagt um das, was sie im Bett beziehungsweise auf dem Boden gemacht hatten. Sie zündete sich eine neue Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
»Die meisten Männer scheinen einfach nicht zu kapieren, daß es ziemlich weh tun kann, wenn sie einem die Beine über die Schultern drapieren, um tiefer eindringen zu können. Als Frank das letzte Nacht bei mir gemacht hat, hatte ich das Gefühl, als würde er mir gleich die Spirale herausreißen. Aber du bist ja Spiralenexpertin«, fügte sie hinzu. Dabei sah sie mich an, als wollte sie dieses Problem allen Ernstes diskutieren.
Sylvie war der einzige Mensch in meinem Bekanntenkreis, der mein grundsätzliches Interesse befriedigte, wenn es um die Frage ging, was andere Leute eigentlich taten, wenn
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