Höhenangst
könnte ich jedes einzelne Organ spüren: mein Herz, meine Eingeweide, meine Lungen, meine schmerzenden Nieren, ja sogar das Blut, das durch meine Adern floß, meinen brummenden Kopf.
Hin und wieder erwachte das Funkgerät von PC Mayer knisternd zum Leben, und sie gab formelhafte Wendungen über Termine und Ankunftszeiten durch. Außerhalb dieses Wagens ging das normale tägliche Leben weiter – die Leute kümmerten sich um ihre Angelegenheiten und waren gereizt, gelangweilt, zufrieden, desinteressiert, aufgeregt oder müde. Sie dachten über ihre Arbeit nach, darüber, was sie mittags kochen sollten oder was ihre Tochter am Morgen beim Frühstück gesagt hatte. Sie dachten an den Jungen, der ihnen gefiel, oder daran, daß sie dringend zum Friseur mußten oder daß sie Rückenschmerzen hatten. Kaum zu glauben, daß ich auch einmal an diesem Leben teilgehabt hatte. Ich konnte mich dunkel an die Abende erinnern, die ich mit der alten Clique im Vine verbracht hatte, aber das alles erschien mir wie ein halbvergessener Traum. Worüber hatten wir bloß geredet – Abend für Abend, als würde Zeit keine Rolle spielen? War ich damals glücklich gewesen? Ich wußte es nicht mehr. An Jakes Gesicht konnte ich mich inzwischen kaum noch erinnern. Zumindest hatte ich vergessen, wie es ausgesehen hatte, als ich noch mit ihm zusammenlebte und er mein Geliebter war. Ich wußte auch nicht mehr, mit welchem Blick er mich angesehen hatte, wenn wir zusammen im Bett lagen. Sooft ich mich zu erinnern versuchte, schob sich sofort Adams Gesicht dazwischen, und ich sah wieder den eindringlichen Blick seiner blauen Augen. Wie hatte er es bloß geschafft, sich derart zwischen mich und die Welt zu schieben, daß ich nichts anderes mehr sah außer ihn?
Erst war ich Jakes Alice gewesen, dann Adams Alice.
Nun war ich nur noch Alice. Alice allein. Es gab niemanden mehr, der mir sagte, wie ich aussah, oder mich fragte, wie es mir ging. Niemanden, mit dem ich Pläne schmieden oder über das, was ich dachte, diskutieren konnte. Niemanden, von dem ich mich beschützen lassen oder in dem ich mich verlieren konnte. Falls ich das Ganze überlebte, würde ich allein sein. Ich blickte auf meine Hände hinunter, die untätig in meinem Schoß lagen. Ich lauschte meinen ruhigen, regelmäßigen Atemzügen.
Vielleicht würde ich es nicht überleben. Bevor ich Adam kennenlernte, hatte ich niemals solche Angst vor dem Tod gehabt, wahrscheinlich, weil er mir damals noch wie eine weit entfernte Möglichkeit erschienen war, etwas, das einer alten, weißhaarigen Frau passierte, die ich nicht mit mir in Verbindung bringen konnte. Wem würde ich fehlen, wenn ich tot war? Meinen Eltern natürlich. Und meinen Freunden? Ein wenig vielleicht – aber für sie war ich bereits von der Bildfläche verschwunden, als ich Jake und mein altes Leben verlassen hatte. Sie würden verwundert die Köpfe schütteln, wie man es tut, wenn man eine seltsame Geschichte hört. »Armes Ding«, würden sie sagen. Adam hingegen würde mich wirklich vermissen. Ja, ihm würde ich fehlen. Er würde um mich weinen, echte Tränen des Kummers. Er würde mich nie vergessen und immer um mich trauern. Was für eine seltsame Vorstellung. Ich mußte fast lächeln.
Wieder zog ich das Foto aus der Tasche und sah es mir an. Da stand ich – so glücklich über das Wunder meines neuen Lebens, daß ich aussah wie eine Irre. Hinter mir ragte ein Weißdornbusch auf, außerdem gab es ein bißchen Gras und Himmel, aber das war auch schon alles.
Was, wenn ich die Stelle nicht mehr fand? Während ich versuchte, mich an den Weg zu erinnern, dem wir von der Kirche aus gefolgt waren, kam ein Gefühl totaler Leere über mich. Ich konnte mir nicht mal mehr die Kirche selbst vorstellen. Schließlich zwang ich mich, nicht länger darüber nachzudenken, weil ich Angst hatte, sonst auch noch die letzten Erinnerungsreste zu verscheuchen. Als ich erneut einen Blick auf das Foto warf, hörte ich plötzlich meine eigene Stimme. »Für immer«, hatte ich damals gesagt. Für immer. Was hatte Adam darauf geantwortet?
Daran konnte ich mich nicht mehr erinnern, aber ich wußte noch, daß Tränen über sein Gesicht liefen, ich hatte sie auf meiner Wange gespürt. Einen Moment lang hätte ich am liebsten selbst geweint. Hier saß ich nun in einem kalten Polizeiwagen und war unterwegs herauszufinden, ob ich gewinnen oder verlieren, ob ich weiterleben oder von Adam zerstört werden würde. Adam war nun mein Feind, aber er hatte
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