Höhenangst
mich trotzdem geliebt, was auch immer das heißen mochte. Ich hatte ihn ebenfalls geliebt, und einen Moment lang war ich versucht, PC Mayer zu bitten umzukehren und zurückzufahren, weil alles ein schrecklicher Fehler, ein verrückter Irrtum sei.
Ich schüttelte mich und wandte den Blick von dem Foto ab. Statt dessen sah ich wieder aus dem Fenster.
Inzwischen hatten wir die Autobahn verlassen und fuhren durch ein kleines graues Dorf. Nichts, was ich sah, kam mir bekannt vor. O Gott, vielleicht würde mir der Rest auch nicht mehr einfallen. Der Nacken von Police Constable Mayer wirkte nach wie vor steif und unnachgiebig. Erneut schloß ich die Augen. Ich hatte schreckliche Angst, aber seltsamerweise machte mich diese Angst ganz ruhig. Es war eine krankhafte Art von Ruhe, die fast etwas Lähmendes hatte. Sooft ich die Sitzposition wechselte, kam es mir vor, als würde sich meine Wirbelsäule dünn und brüchig anfühlen. Meine Finger waren kalt und starr.
»Da wären wir.«
Der Wagen hielt an der St.-Eadmund’s-Kirche. Ein Schild an der Außenseite des Gebäudes verkündete stolz, daß sein Fundament über tausend Jahre alt sei. Zu meiner großen Erleichterung konnte ich mich sowohl an die Kirche als auch an das Schild erinnern. Aber das war erst der Anfang meiner Prüfung. Police Constable Mayer hielt mir die Tür auf. Nachdem ich ausgestiegen war, sah ich, daß drei Leute auf uns warteten: eine weitere Frau, ein bißchen älter als Mayer, mit einer dicken Lammfelljacke, und zwei Männer in gelben Jacken, wie sie Bauarbeiter häufig tragen. Sie waren mit Spaten ausgerüstet. Obwohl ich wackelige Knie hatte, versuchte ich, mit großen, energischen Schritten zu gehen, als wüßte ich genau, was ich wollte.
Die drei würdigten mich kaum eines Blickes, als wir zu ihnen traten. Die beiden Männer waren in ein Gespräch vertieft.
Nachdem sie kurz hochgesehen hatten, nahmen sie ihre Unterhaltung wieder auf. Die Frau trat vor und stellte sich als Detective Constable Paget vor. Dann nahm sie Mayer am Arm und führte sie ein Stück von mir weg.
»Länger als zwei Stunden dürfte das Ganze eigentlich nicht dauern«, hörte ich sie sagen. Kein Mensch schien mir zu glauben. Ich blickte auf meine Füße hinunter.
Meine lächerlichen Stiefeletten waren für einen Marsch durch Moorland und nasse Felder völlig ungeeignet.
Immerhin wußte ich, in welche Richtung wir uns wenden mußten. Wir brauchten bloß weiter die Straße entlanggehen, an der Kirche vorbei. Das Problem war, wie es dann weiterging. Ich ertappte die beiden Männer dabei, wie sie mich anstarrten, aber als ich zurückstarrte, wandten sie den Blick ab, so, als hätten sie Angst vor mir
– der Verrückten. Ich schob mir das Haar hinter die Ohren und schloß auch noch den obersten Knopf meiner Jacke.
Die beiden Frauen kehrten zurück. Sie machten einen entschlossenen Eindruck.
»Dann mal los, Mrs. Tallis«, sagte Detective Paget.
»Zeigen Sie uns bitte den Weg.«
Meine Kehle fühlte sich an, als würde irgend etwas Großes dann feststecken. Ich setzte mich in Bewegung.
Meine Absätze klapperten über die stille Straße, während ich konzentriert einen Fuß vor den anderen setzte. Links, rechts, links, rechts. DC Paget ging neben mir, die anderen blieben ein Stück zurück. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten, hörte aber hin und wieder einen von ihnen lachen. Meine Beine waren wie Blei. Die Straße vor uns erschien mir endlos, die Landschaft eintönig. War das mein letzter Spaziergang?
»Wie weit ist es von hier?« fragte Detective Paget.
Ich hatte keine Ahnung. Aber nach einer Kurve teilte sich die Straße, und ich sah ein Kriegerdenkmal, das von einem ramponierten steinernen Adler gekrönt wurde.
»Wir sind richtig«, sagte ich, wobei ich mich bemühte, mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen. »Hier sind wir damals vorbeigekommen.«
Detective Paget hatte die Überraschung in meiner Stimme wohl doch gehört, denn sie warf mir einen prüfenden Blick zu.
»Genau hier«, sagte ich. Obwohl ich das Denkmal völlig vergessen hatte, konnte ich mich nun, da wir hier waren, wieder genau daran erinnern.
Ich führte sie das kleine Sträßchen entlang, das eigentlich eher ein Feldweg war. Mein Körper zeigte mir den Weg. Irgendwo hier in der Nähe würde ein Pfad von der Straße abzweigen. Aufmerksam sah ich von links nach rechts und blieb immer wieder stehen, um ins Unterholz zu spähen, weil ich Angst hatte, der Weg könnte zugewachsen sein,
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