Hoehenfieber
trieben ihre Schuldgefühle Sadia einen Kloß in den Hals, den sie mühsam hinunterschluckte. „Wie geht es dir, meine Kleine?“ Ihre Hände tasteten sich von Latifas Schultern über ihre Arme, glitten zur Taille und nach hinten, den Rücken hinauf. Sadia folgte einem unwiderstehlichen Drang, ihr geliebtes Kind zu berühren, jeden Zentimeter ihres Körpers zu ertasten, um sich davon zu überzeugen, dass Latifa lebte. Dass sie ihr leibhaftig gegenüberstand und keinem Gespinst ihrer Einbildung entsprang.
Latifa löste sich behutsam aus ihrer Umarmung und griff nach Sadias Hand, die sie kraftvoll umklammerte. Sie trat einen Schritt zurück.
„Mama, wo sind wir? Wo ist Virgin?“
„Und wo sind Nash und Dix?“, erklang es neben ihnen.
Sadia wandte sich Fatmas Bett zu, ohne die Hand aus der ihrer Tochter zu lösen. Die Linke streckte sie der jungen Frau entgegen, die Sadia ein Lächeln zuwarf, das sie nicht verdient hatte.
Fatma erhob sich. Als sie vor Sadia und Latifa auf die Beine kam, streckte sie die Hände nach ihnen aus, und die beiden schlossen Fatma gemeinsam in die Arme.
Wortlos standen sie eine Weile eng aneinandergedrückt.
Dieses Mal spürte Sadia, dass keine Worte mehr notwendig waren. Die Liebe floss von einem Körper zum anderen. Ein Kreis schloss sich, der ihre Herzen auf ewig miteinander verband.
„Danke“, flüsterte sie an Fatmas Ohr und spürte, dass die junge Frau all das Ungesagte verstand, das sich in diesem einen Wort verbarg.
Für Sadia löste sich die innige Verbindung viel zu schnell. Als hätten die beiden jungen Frauen es mental vereinbart, öffneten sich ihre Lippen gleichzeitig.
„Wo ist Virgin?“
„Wo ist Nash?“
Verwirrt schüttelte Sadia den Kopf. „Wer ist das?“
*
„Fadi“, sagte Alessa eindringlich. „Bitte weich mir nicht aus. Rede mit mir!“
Wortlos sah er sie an. Für einen Moment blitzte Mutlosigkeit in seinem Ausdruck, dann senkte er den Kopf. „Du wirst mich hassen“, murmelte er.
Gott, wo war der smarte junge Mann, den sie an der Uni kennengelernt hatte? Hinter seiner Fassade aus Casanova-Gebahren und Marquis de Sade hatte sie geglaubt, einen begehrenswerten Menschen zu sehen, der sein wahres Ich aus irgendeinem Grund verborgen hielt. Es hatte sie gereizt, einen Blick in sein Innerstes zu erhaschen. Je näher sie sich kamen, desto mehr war sie davon überzeugt, dass es sich lohnte, ihn umzukrempeln. Zwar war sie in ihrem Bemühen, ihn dazu zu bringen, sich ihr zu öffnen, noch keinen Schritt weitergekommen, aber dafür hatte sie erhebliche Fortschritte auf anderem Gebiet erreicht. Von Anfang an hatte er sie anständig und zuvorkommend behandelt, wenn sie allein waren. Dass sich sein Verhalten mit jedem Mal änderte, wenn sie gemeinsam in der Öffentlichkeit auftraten, hatte ihr Herz schneller klopfen lassen und sie in der Meinung bestärkt, auf dem richtigen Weg zu sein. Seit sie allerdings in Dubai angekommen waren, wusste sie nicht mehr, woran sie glauben sollte.
Weitestgehend schob sie Fadis Verhalten auf die angespannte Situation und die Angst um seine Schwester. Natürlich war ihr vollkommen klar, dass jeder Mensch hier an seine Grenzen geführt wurde – und darüber hinaus. Dennoch keimte ein unheilschwangerer Gedanke und wuchs zu einem qualvollen Stachel.
Fadi verbarg etwas. Nicht nur vor ihr, auch vor seiner Mutter und allen anderen. Alessas Gefühl warnte sie davor, dass dieses Geheimnis das Ende ihrer Beziehung bedeuten konnte.
Wäre sie in der Lage, ihm zu verzeihen, sollte er eine immense Schuld auf sich geladen haben? Hatte er mit der Erpressung und der Flugzeugentführung mehr zu tun, als es den Anschein gab? Ihr Herz wehrte sich vehement gegen diese Verdächtigungen, doch ihre Unsicherheit wuchs.
Sie waren seit mehr als sieben Monaten ein Paar, auch wenn sie noch nicht miteinander geschlafen hatten. Sie vertraute Fadi. Warum sperrte er sich, auch ihr sein Vertrauen zu schenken?
Glaubte er, als einziger männlicher Vertreter der Familie Antun Sa’ada die Last allein tragen zu müssen? Warum zog er sich immer allein zu seinem Vater Rashad zurück, statt sie zu bitten, ihn zu begleiten? Irgendwann müsste er sie doch auch dem Sheikh vorstellen. Und wäre sie Fadi keine Stütze, wenn er – wie es in einer Partnerschaft sein sollte – ihr seine Gedanken und Sorgen mitteilen würde, damit sie zumindest versuchen könnte, ihn moralisch aufzubauen?
Als Fadi weiterhin mit gesenktem Kopf dasaß und schwieg, ertrug sie
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