Hoehenfieber
rollten über ihre Wangen. Sadia strich sie nicht fort.
Ihr Blick glitt über Fatma, die in dem zweiten Bett lag. Das Mädchen hatte keine Familie. Ihr Vater war unbekannt – möglicherweise war es Rashad, wer wusste das schon genau? Ihre Mutter war im Kindsbett gestorben und das Baby war im Harem unter der Obhut der Huren aufgewachsen. Sadia hatte es nie übers Herz gebracht, für eines der zahlreichen Kinder ein Gefühl aufzubringen, zu sehr waren ihre Empfindungen tief in ihrem Inneren eingekerkert gewesen. Sie hatte es nicht geschafft, die Ketten zu sprengen.
Eine Flut Reue trieb einen frostigen Schauder über ihre Haut. Zärtlich berührte Sadia auch Fatmas Wange. Zwischen den beiden Betten sitzend fühlte sie ihr zerrissenes Herz zusammenwachsen. Fatma hatte Latifa niemals im Stich gelassen, obwohl sie die Möglichkeit gehabt hätte, ihre Freiheit auszuschöpfen und ihre eigenen Wege zu gehen. Sie würde dieses Mädchen lieben wie Latifa. Wenn sie es ihr nur gestattete.
Die bange Erwartung vor dem Aufwachen der beiden steigerte sich zu einer unerträglichen Spannung.
„Hatschi!“
Sadia zuckte zusammen wie bei einem Donnerschlag inmitten friedvollster Stille. Sie wirbelte zu Latifa herum.
Ihre Tochter nieste erneut, ihre Hand löste sich aus Sadias und fuhr sich an die Nase.
Sadia sprang auf. Sie wollte sich zu Latifa hinabbeugen, ihr die Arme um die Schultern legen und sie an ihr Herz ziehen, doch jäh fühlte sie sich wie gelähmt. Die Furcht vor Zurückweisung presste sie in eine Starre.
Langsam hoben sich Latifas Lider. Der Blick ihrer braunschwarzen Augen irrte durch den Raum, dann klärte sich der Ausdruck. Sie sahen einander an. Der Schleier auf Sadias Augen schien sich bis über ihre Ohren auszubreiten, sie hörte ihr Blut wie durch Watte rauschen. Ihr Atem stockte. Ihre Hände zitterten unkontrolliert.
„Mama …“
Zuerst nahm Sadia das Wort nur als Bewegung von Latifas Lippen wahr.
„Mama!“ Latifa stemmte sich wie in Zeitlupe auf.
Das stählerne Band um ihren Brustkorb riss. Sadia stürzte auf die Knie. Sie angelte mit beiden Händen nach Latifas Fingern und presste sie zwischen ihre Handflächen. Ihr Kopf sank auf die Bettkante. „Verzeih mir!“ Wie ein Tsunami überrollten sie all die Gefühle, die sie jahrelang tief in sich verborgen gehalten hatte. Ihre Schultern zuckten, ihre Tränen nässten das Laken, und jede Träne leckte wie eine Feuerzunge über ihre Haut. „Latifa, verzeih mir!“ Wie ein Echo wiederholte sie die Bitte, und nichts als Hilfslosigkeit rauschte durch ihre Sinne. Sie wünschte, dass sich der Boden unter ihr auftäte und sie in die verdiente Hölle katapultierte, wo sie die Strafe für ihre Verfehlungen erhalten würde. Sadia hätte ihre Seele dafür geben, dass Latifa und Fatma über all den Schrecken hinwegkämen und ihr Glück fänden.
„Mama!“
Wie zarte Schmetterlingsflügel legten sich Latifas Hände rechts und links an ihren Kopf. Sadia hatte nicht einmal mitbekommen, dass sie nur noch das Laken knetete, statt die Finger ihrer Tochter zu halten. Ein sanfter Druck lenkte ihren Kopf nach oben, die Hände glitten hinab zu ihren Schultern und umfassten sie.
Latifa ließ sie kurz los. Ihre Beine glitten aus dem Bett.
Bevor Sadia vollends in sich zusammensackte, schob Latifa ihre Hände unter Sadias Achseln und zog sie zu sich hinauf, bis sie einander gegenüberstanden.
Die Arme ihrer Tochter lagen um ihren Hals, der warme Atem streifte ihre Wange. „Ich liebe dich, Mama“, hauchte es als geflüsterte Worte an ihrem Ohr vorbei.
Sadias Blut rauschte in ihre Füße. Sie schwankte. Wie eine Ertrinkende umschlang sie Latifa und presste sie an sich. „Latifa, mein Mädchen.“
Ihre Nase verstopfte, ihre Lungen flatterten im verzweifelten Kampf ums Luftholen. „Ich liebe dich, mein Kind. Ich liebe dich über alles auf der Welt.“ Ihr Herz schwoll an, erdrückende Gefühle breiteten sich in ihrem Inneren aus, als wollten sie Sadia zum Bersten bringen. Mit jeder verstreichenden Sekunde in den Armen ihrer Tochter legte sich die Schwere und wandelte sich in wohltuende Kraft, bis Sadia wieder festen Boden unter sich spürte und den Mut fand, ihrer Tochter in die Augen zu blicken.
„Bitte verzeih mir, Latifa. Ich hätte dich niemals gehen lassen dürfen.“
Zärtlich strich Latifa ihr eine feucht an der Wange klebende Haarsträhne hinter das Ohr. „Es gibt nichts zu verzeihen, Mama. Ich liebe dich. Ich bin so froh, dass du da bist.“
Erneut
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