Hoehenfieber
erinnerten mit schmerzhaftem Nachdruck an die Tortur.
„Alessa?“ Suchend wandte sie den Kopf.
„Ich bin sofort da“, drang die Stimme des Mädchens aus der halb geöffneten Tür zum Nebenraum. Wahrscheinlich ein Badezimmer, dachte Sadia und schob sich auf die Ellbogen.
„Bleiben Sie liegen, Sadia. Ich versorge Ihre Wunden.“
Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre es Sadia viel zu schwer gefallen, sich zu erheben. Im Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als davonzuschweben, frei und losgelöst von allen Sorgen und Schmerzen.
„Bleib für immer mein zarter, bunter Schmetterling.“
Saids Worte sandten einen quälenden Stich durch ihr Innerstes, so leibhaftig, dass sich Sadia zusammenkrümmte. Sie war nutzlos und schwach. Nicht in der Lage, geringste Strapazen zu verkraften und ihrer Tochter eine Hilfe zu sein. Ihr verweichlichtes Dasein im Harem, die Verdammung zu tatenloser Präsenz allein in makelloser Schönheit, hatte ihr jegliche Kraft geraubt. Physisch und psychisch. Sie war nichts als ein Wrack. So wäre auch Latifa geworden und nur Allah wusste um ihre zahllosen Gebete, dass ihrer Tochter ein besseres Leben zuteilwurde.
„Latifa.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Weißt du etwas über den Verbleib meiner Tochter?“
„Nein“, sagte Alessa und kam mit einer Schüssel aus dem Badezimmer. Sie stellte sie auf dem Nachtschränkchen neben dem Bett ab und setzte sich vorsichtig auf die Matratze. „Schließen Sie die Augen, Sadia. Ich muss das Licht einschalten, um Ihre Verletzungen besser zu erkennen.“
Sadia sackte tiefer in das Kissen und folgte der Aufforderung. In ihrem jetzigen Zustand konnte sie ihrer Tochter erst recht keine Hilfe sein, also war es besser, zunächst wieder zu Kräften zu kommen.
Wie sehr bewunderte sie die Tatkraft und Energie der jungen Frau an ihrer Seite. Sie erinnerte Sadia an die lebhafte Studentin, die sie einmal gewesen war. Voller Unternehmungslust und Lebenshunger. Voller Vorfreude auf ihre Rolle als Ehefrau an der Seite eines schönen und erfolgreichen Mannes. Wie sehr war sie davon überzeugt gewesen, dass Rashad ihre und die Gesinnung ihrer Familie vertrat. Nicht in ihren furchtbarsten Träumen hätte sie erwartet, dass sich Rashad als despotischer Patriarch entpuppte und schon gar nicht, dass er sich als verbohrter, unbelehrbar verirrter Muslim herausstellte.
„Nicht erschrecken. Ich tupfe Ihre Wunden ab und beginne an den Füßen.“
Dass sie nicht lachte. Vielweiberei betreiben und das Alkoholverbot missachten. Außer dem täglichen Theater, das Rashad um die Scharia , die Gesetze des Islam, veranstaltete, indem er zahlreiche Regeln wie Rituale zelebrierte, war es nicht weit her mit seiner Gläubigkeit. Den für alle Muslime gültigen moralischen, ethischen und sozialen Kodex, der sich aus dem Koran und den Bräuchen, der Sunna , ergab, trug er nur als Maske mit sich herum.
Die Richtlinien für alles, was Muslime taten, setzte er mit aller Härte für andere durch, nur nicht für sich selbst.
Oh ja, er bekannte sich zur Shahāda , dem Glaubensbekenntnis und der ersten Säule des Islam, doch nur äußerlich. Ebenso wusch er fünf Mal täglich seine Arme und Füße, Gesicht und Kopf, ehe er sich gen Mekka verneigte und den Salat verrichtete.
„Geht es? Oder schmerzt es zu sehr?“
Sadia entkrampfte ihre zusammengepressten Lippen. Sie spürte im Moment keinen Schmerz, außer in ihrem Herzen. „Nein, es ist gut.“
„Ich habe Kamille ins Wasser gegeben.“ Alessa betupfte behutsam Sadias Knie.
Mit den beiden ersten Säulen des Islam erschöpfte sich Rashads Folgsamkeit. Seine angeblichen Pilgerfahrten nach Mekka hatten erstaunlicherweise immer zur Folge, dass das Harem im Anschluss Zuwachs aus den verschiedensten Kontinenten erhielt. Bezaubernde, zarte Asiatinnen, hellhäutige Europäerinnen, rassige Schönheiten aus Afrika oder Amerika mit schokoladenbrauner Haut bis zu cremigem Milchkaffee.
Das Fasten fand nicht hinter den verschlossenen Türen von Rashads pompösen Privaträumen statt und die Verpflichtung, Hilfebedürftige zu unterstützen und Almosen zu geben, die Zakat , schwand bei Rashad auf die heutzutage abwertend gemeinte Bedeutung des Wortes Almosen. Dabei hätte er mit all seinem Geld so viel Gutes tun können. Stattdessen pflegte er über seinen Reichtum zu spotten: Man ist kein Milliardär, wenn man seine Millionen noch zählen kann. Dabei wusste er nicht einmal, von wem dieses Zitat stammte. Den Namen Jean Paul
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