Hoehenfieber
übernahm Sadia die Führung. Sie wunderte sich nur für die Dauer eines Wimpernschlags, dass sie den Mut und die Energie aufbrachte, doch ihr Herz schrie förmlich danach, aufzubegehren. Es ging um ihre Tochter, ihr Fleisch und Blut, das einzig Wertvolle, das sie am Leben hielt.
Sie stellte sich an das Kopfende des Tisches und klopfte mit den Knöcheln ihrer Faust auf die Tischplatte. Erst zaghaft, dann fester, bis alle Blicke auf ihr lagen.
„Ich möchte über jedes Detail unterrichtet werden und wissen, wie der aktuelle Stand der Dinge ist.“ Ihre Kehle brannte und ihr Gesicht nicht weniger. Würden ihre Brüder sie ernst nehmen? Ihre westliche Gesinnung sollte es ihnen gebieten, doch wenn sie sich längere Zeit in Dubai aufhielten und erst recht, wenn sie unter sich waren, blitzte hier und da immer wieder ihre leicht patriarchische Einstellung durch. So modern sie sich in der Regel verhielten, die Einflüsse der „anderen Welt“, der traditionsbehafteten und glaubensstarken, über Jahrzehnte geprägten Lebensweise ging nicht gänzlich spurlos an ihnen vorüber. Sie lebten zwischen zwei Welten und versuchten, von beiden das jeweils beste in ihren Lebensstil zu übernehmen. Das war nicht immer einfach.
Jemand schob ihr einen Stuhl zurecht und stellte eine Wasserflasche und ein Glas vor ihr ab. Erst jetzt bemerkte sie, wie durstig sie war.
Alessa goss ihr ein. Dankbar nickte sie ihr zu und trank in langen Zügen.
Ihre Brüder hielten noch immer Maulaffen feil.
Mit einem Knall stellte sie das Glas auf dem Tisch ab, sodass die Männer zusammenzuckten. „Hat es euch die Sprache verschlagen oder seid ihr mittlerweile von westlichen Gepflogenheiten so weit abgerückt wie Sheikh Rashad?“ Damit traf sie einen wunden Punkt, denn ihre Brüder verabscheuten samt und sonders den Lebenswandel ihres Ehegatten. Nicht nur, dass sie verurteilten, dass er sich einen Harem hielt, sie unterstützten auch nicht die Gesinnung der Vielweiberei. Für sie hatte Allah eine einzige Partnerin für jeden Mann vorgesehen und daran hielten sie sich. Auch mussten ihre Frauen keine traditionelle arabische Kleidung tragen oder sich gar verschleiern. Unter den alt eingesessenen Emiratis fand sich diese Einstellung selten. Die Familien ihrer Brüder lebten einen Großteil des Jahres im Ausland, hauptsächlich während der heißesten Zeit von Mitte Juni bis Mitte September. Einer besaß eine Stadtwohnung in London, der nächste in Paris, Ziad in München. Ziads Frau Simone war sogar eine Deutsche, die es mit den Jahren hervorragend geschafft hatte, die westliche Kultur mit der arabischen zu vereinen und auch in Dubai anerkannt zu werden. Sie leitete ein Architekturbüro und verhandelte knallhart mit Männern, angefangen vom Bauleiter bis zum Auftraggeber. Und sie fand dabei Respekt. Das war in Europa sicherlich nicht außergewöhnlich, in Dubai jedoch noch eher selten.
Insgeheim hatte sich Sadia immer ein Leben wie das von Simone und Ziad gewünscht.
„Ihr seid zwar in Dubai, liebe Brüder, aber ihr seht, ich trage ein westliches Outfit. Ich erwarte von euch, dass ihr euch benehmt, wie ihr das auch in Europa tun würdet.“ Sadia spürte den lang verloren gegangen Enthusiasmus ihrer Studienzeit immer mehr zurückkehren. Langsam, aber beharrlich.
Endlich tauchten ihre Brüder aus ihrer Starre. Ein Stimmengewirr setzte ein, aus dem Sadia nicht schnell genug alle relevanten Informationen herausfiltern konnte, doch nach einigen Minuten war sie endlich im Bilde.
„Ich werde Rashad anrufen. Er soll mit Fadi auf der Stelle herkommen und gemeinsam mit uns die Lösegeldübergabe vorbereiten. Ich weiß, dass der Sheikh Latifa in seine Gewalt bringen will, aber daran werde ich ihn hindern. Und das kann ich nur, wenn ich weiß, was er vorhat.“
Ziad reichte ihr sein Handy. „Die Nummer ist schon gewählt.“
Kalter Schweiß rann Sadia in den Nacken, während sie darauf lauschte, dass jemand am anderen Ende der Leitung das Gespräch annahm. Sie wartete, bis eine Ansage mitteilte, der Teilnehmer sei nicht erreichbar und wählte sofort erneut. Dieses Mal meldete sich ein Bediensteter.
„Hier spricht Sayeeda Sadia. Bring das Telefon zu meinem Mann. Rasch!“
„Es … es tut mir leid, Sayeeda Sadia. Der Sheikh hat Anweisung gegeben, ihn nicht zu stören. Er schläft.“
Etwas explodierte in ihrem Inneren. „Verflixt noch mal, das ist mir egal. Wecken Sie ihn auf der Stelle.“ Hinter sich hörte Sadia ihre Brüder nach Luft schnappen.
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