Höhenrausch (German Edition)
eins tauchen da nur Spacken auf.»
Halb eins? Na toll. Und was mache ich bis dahin? Auf keinen Fall will ich noch eine Minute länger allein mit meinem Ärger über den verlorenen Sprengkopf und meinem schlechten Gewissen gegenüber Frau Berger verbringen.
Ich könnte meine Mutter anrufen und ihr sagen, dass ich auch dieses Jahr nicht mit Weihnachten feiern werde – was an den beiden Blagen meiner Schwester liegt. Noch heute regt sich meine Mutter über die kleinen Penisse in ihrem Esstisch auf, die der Ältere von beiden aus Langeweile mit seinem Taschenmesser hineingeritzt hatte. Der Jüngere hatte sich die Zeit damit vertrieben, sich in den Hundekorb zu übergeben – in dem leider unser Hund lag.
Man muss dazu sagen, dass ich meine Schwester nicht besonders gut leiden kann. Sie ist zwei Jahre älter als ich und hat es von Anfang an verstanden, mir das Gefühl zu vermitteln, ein ungewollter Störenfried in der Familie Schumann zu sein. Gerne drückte sie mir Zahnpasta ins Auge, zwang mich, Regenwürmer zu essen, und legte mir Feuerquallen unters Kopfkissen. Einmal tauschte sie mich am Strand in Holland gegen eine Schildkröte ein – was ich ihr bis heute nachtrage.
Da ich Weihnachten liebe, habe ich schon vor Jahren beschlossen, das Fest jeweils ohne meine Familie zu verbringen. Auch die Adventszeit koste ich aus. Sie ist gerade lang genug, um in vollen Zügen in ihr zu schwelgen, und gerade kurz genug, um ihrer niemals überdrüssig zu sein. Es ist wie mit Abendkleidern: Man liebt sie besonders, weil man sie bloß so selten tragen kann.
Herrlich auch, dass Advent die einzige Zeit im Jahr ist, in der es nicht auf guten Geschmack ankommt. Im vorweihnachtlichen Goldrausch ist es vielmehr erlaubt und erwünscht, endlich all das zu lieben, was man den trostlosen Rest des Jahres verachten soll – Elche zum Beispiel, die «Ho-ho-ho, it’s Christmas Time!» röhren, oder rot bemützte Bären mit Schellen in den Tatzen, die «Jingle Bells» spielen.
Nie sind Pauschalisierungen zutreffender als in der seligen Weihnachtszeit: Frauen neigen zum Dekorieren, Männer neigen dazu, Frauen daran zu hindern.
Es muss an frühkindlichen Sozialisationsdefiziten liegen, vielleicht auch am Hirnvolumen, dass Männer in der Adventszeit für mich nur schwer nachvollziehbare Dinge sagen wie «Der Weihnachtsmann sieht aus wie eine Puffmutter mit Damenbart» und «Ich kann nicht einschlafen, wenn die Lichterketten ständig blinken».
Oder, um den Vorgang des weihnachtlichen Schmückens schon im Keim zu ersticken: «Manchmal ist weniger ja auch mehr!»
Dieser oberdämliche Satz hat noch nie gestimmt. Richtig ist: Mehr ist mehr! Eine sparsam dekorierte Wohnung ist wie das liebe Jesulein ohne Windeln, nackt, fröstelig, ungemütlich. Nur im Sommer ist eine karge Unterkunft erträglich: Man ist in der Regel nicht zu Hause, sondern muss sich die Schultern auf unsäglichen Wochenendausflügen versengen.
Natürlich hatte ich Andreas angeboten, meine Weihnachts-Deko zu benutzen. Und natürlich hatte er abgelehnt. Er wird das tun, was er schon immer mal an Weihnachten tun wollte: DVDs gucken, im I-Tunes Music-Store stöbern, Pizza mit Thunfisch essen – und dabei nicht eine einzige Kerze anzünden.
Rufe ich jetzt meine Mutter an? Ach, lieber nicht. Sie wird es mir wieder übel nehmen, dass ich zum Fest nicht nach Hause komme, obschon sie zugeben muss, dass sie ihr letztes friedliches Weihnachten erlebt hat, bevor meine Schwester laufen lernte.
Um neunundzwanzig Minuten nach Mitternacht betrete ich eine riesenhafte Fabrikhalle – Betonboden, Betonwände, Betondecke – und frage mich, wo der gute alte Brauch geblieben ist, sich zum Ausgehen was Hübsches anzuziehen und zumindest eine tönende Creme aufzulegen.
Mein erster Eindruck: blasse Gesichter unter fragwürdigen Mützen, Unterhemden, oversized Jeans, die sich verzweifelt an undersized Hüften festklammern. Ich sehe nicht ein einziges geputztes Paar Schuhe. Außer meinen, leider.
Die Mädchen sehen aus wie untrainierte Jungs, trinken Bier aus der Flasche und haben eine Körperhaltung, die Orthopäde zum Beruf mit Zukunft macht.
Um nicht unnötig aufzufallen, lasse ich die Schultern etwas hängen und greife nach einer Flasche Bier.
Dass Spilz mich trotzdem sofort erkennt, verstimmt mich ein wenig. Er hat ein sehr hübsches Gesicht, aber seine Haare werden von einem mützenartigen Filzobjekt verdeckt, das aussieht, als wäre es zufällig von irgendwoher auf seinem
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