Höhlenangst
Laichingen, ein Schulfreund von mir. Man kennt sich halt, hier heroben. Übrigens, was war heute wieder los da oben an der Mondscheinhöhle? Gestern ist Julian reingefallen. Das hat mir Frau Kerner inzwischen erzählt, die Klassenlehrerin. Gott sei Dank hat er sich nicht ernsthaft verletzt, wie ich höre. Nur etwas unterkühlt war er. Kein Wunder nach fünf Stunden. In unseren Höhlen herrscht eine konstante Temperatur von acht Grad. Wie in einem Kühlschrank. Übrigens hat Frau Kerner noch etwas sehr Erstaunliches erzählt.«
»Was?«
»Sie, Frau Nerz, waren es, die den Julian hochgeholt hat, nicht unser großer Hark Fauth.«
»Er hat Probleme mit seinem Knie.«
»Tatsächlich?« Bodo nagelte seinen blauen Blick in meinen. »Wenn Sie mich fragen, Frau Nerz, dann hat Hark Fauth ein ganz anderes Problem.«
»Ah ja?«
»Ja.« Bodo lehnte sich zurück. »Ich glaube, er leidet unter Klaustrophobie.«
Ich musste lachen.
»Das klingt verrückt, ich weiß. Fast zwanzig Jahre lang kraucht unser Hark durch sämtliche Höhlen der Er de, und es gibt nichts, wovor er sich furchtet, und auf einmal hat er Platzangst.«
»Und wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe da etwas beobachtet, letztes Jahr in einem Restaurant in Engstingen. Hark hatte einen unter den Sommergästen so beliebten Bildvortrag über die Höhlen der Schwäbischen Alb gehalten. Wahrscheinlich zahlt man ihn gut dafür. Ich war nur zufällig dort, um etwas zu trinken. Hark hat mich gar nicht gesehen. Er wollte zu den Toiletten. Da war eine von diesen Treppen, die eng und steil nach unten gehen, ockergelb gestrichen, grottenschummrig. Und wissen Sie, was dann passierte? Nichts. Hark ist nicht hinuntergegangen. Er hat eine Wei le mit sich gerungen, dann ist er auf dem Absatz umgekehrt. Und Harndrang ist Harndrang!«
»Aber gleich Klaustrophobie?«
»Waren Sie schon mal bei ihm zu Hause? Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass immer ein Fenster offen steht? Damit hat er uns diesen Winter auch bei den Vereinstreffen zum Wahnsinn getrieben. Egal, wie kalt es draußen war, immer musste ein Fenster offen stehen. Wegen des Zigarettenrauchs, behauptete er. Ich habe schon überlegt, ob ich vorschlage, dass wir nicht mehr rauchen, um die Probe aufs Exempel zu machen. Allerdings hätte ich Winnie dann in meinen Verdacht einweihen müssen, damit er seine Spinnen überzeugt, dass sie dafür stimmen. Und wissen Sie, das hätte dann vielleicht so aufgefasst werden können, als wollte ich was gegen Hark anzetteln. Nach dem ominösen Unfall mit seiner Frau ist er ohnehin nicht mehr unumstritten. Ich bin verschiedentlich schon aufgefordert worden, wieder für den Vorsitz zu kandidieren.«
»Dann vermuten Sie«, resümierte ich, »dass Harks Klaustrophobie eine Folgeerscheinung des ungeklärten Unglücks ist.«
»Das könnte durchaus sein. Aber es könnte auch sein, dass er immer schon latent klaustrophobisch war. Sie wissen doch, Alfred Adler: Der Zwerg wird Imperator, der Gehörgeschädigte trainiert sich zum Vogelstimmenspezialisten hoch, ein Mann mit Platzangst wird Höhlenkrokodil. Hark ist der Typ, den Herausforderungen anspornen. Ein Willensmensch. Doch dann ist im Todsburger Schacht irgendetwas passiert, was er nicht mehr kontrollieren konnte. Etwas, das ihn bis ins Mark erschüttert hat.
Und jetzt kann er eben auch seine Platzangst nicht mehr kontrollieren. So etwas kommt vor.«
Ich fragte mich, ob ich mich schon als Kind geduckt hatte, wenn Janette ihren Wellensittich fliegen ließ. Doch ja, nämlich nachdem er mir auf den Kopf geschissen hat te! Den Sittich im Auge behalten, war eine durchaus vernünftige Schutzmaßnahme gewesen. Entstanden so Phobien?
»Und was war heute an der Mondscheinhöhle los?«, nahm Bodo seine pädagogische Inquisition wieder auf.
»Heute haben die Uracher Spinnen versucht, eine Lei che zu bergen.«
Bodo flogen die Brauen unters weiße Haupthaar. »Ei ne Leiche?«
»Augenscheinlich ein verunglückter Höhlenfahrer. Seltsam nur, dass er nicht mehr dort war, als man ihn heute bergen wollte. Er ist über Nacht verschwunden.«
»Verschwunden? Interessant.« Schreckle legte die Fingerspitzen aneinander. Sherlock Holmes auf seine alten Tage. »Und nun fragen Sie sich, wer die Leiche hätte beseitigen können.«
»Nein, das frage ich mich nicht.«
Mein Einwurf kümmerte ihn nicht. »Hark jedenfalls nicht, denn er leidet ja unter Klaustrophobie.«
»Oder Knieproblemen.«
»Das lässt sich medizinisch vermutlich leichter nachweisen. Ein gutes
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