Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
Kuss. Der alte Magier war sichtlich aus der Fassung. »Leandra...«, krächzte er, und sie hätte ihren rechten Arm dafür gegeben, wäre jetzt ein Künstler bereit gestanden, seinen Gesichtsausdruck in Öl zu bannen.
»Du siehst umwerfend aus«, sagte sie zu ihm und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Die schläfrigen Musiker waren erwacht und versuchten mit lobenswerter, aber vergeblicher Anstrengung, der Situation den angemessenen Pathos zu verleihen. Dann hagelte es Tanzaufforderungen. Zackige Offiziere, harsche Hauptmänner und geschniegelte Höflinge rissen sich um ein paar Schritte mit ihr. Langsam fragte sie sich, ob sie dies alles träumte oder ob es Wirklichkeit war.
Dann erblickte sie in einer Ecke, als einer ihrer Tanzpartner sie herumwirbelte, für einen kurzen Moment eine seltsame Gestalt, und für eine Sekunde setzte ihr Herzschlag aus. Dann aber war sie schon vorbei, und beim nächsten Schwung konnte Leandra diese Gestalt nicht mehr ausmachen. Mit pochendem Herzen fragte sie sich, ob sie da eben jene Erscheinung tatsächlich gesehen hatte oder nicht - einen großen hageren Mann, gekleidet in eine dunkelgraue Mönchskutte.
Leandra fröstelte - besonders, weil sie glaubte, dass sie für Momente ein unheimlicher Blick getroffen hatte.
Schließlich schüttelte sie den Gedanken ab. Die Gestalt war nirgends mehr zu erblicken, und sie hätte wirklich nicht sagen können, ob sie sich in diesem kurzen Moment nicht von einer ständigen inneren Frucht hatte täuschen lassen. Sie widmete sich wieder den Tänzern, die sich gegenseitig mit versteckter Aggressivität bekriegten, um sie für einen Tanz zu gewinnen.
Schließlich war der erste Überraschungseffekt ihres Auftritts verflogen. Die bewundernden Blicke rissen nicht ab, aber langsam kehrte das Fest zur Tagesordnung zurück. Auch Munuel hatte sich wieder gefangen, und man stand gemeinsam am Feuer und schlürfte erlesene Getränke aus kristallenen Kelchen.
Lorin von Jacklor erging sich seit geraumer Zeit in zotigen Scherzen, erzielte damit aber keinen Erfolg bei ihr.
Schließlich gab er es auf und wandte sich mit der Frage an Munuel, was ihn und seine bezaubernde Begleitung in die Festung von Tulanbaar führte.
Munuel besann sich wieder auf ihre eigentliche Absicht. »Wir führen eine Untersuchung im Auftrag des Cambrischen Ordenshauses durch«, erklärte er mit autoritärer Stimme. »Hier in der Festung soll ein Verdächtiger eingesperrt sein.«
»Ach, der Ärmste!«, stieß von Jacklor hervor. »Eine verwirrte Seele und gewiss so unschuldig wie ein Lamm.
Was ihn aber leider nicht vor dem Tode bewahren wird. Welch ein Jammer.«
»Warum soll er sterben, wenn er nichts getan hat?«, fragte Leandra.
»Die Seele des Volkes schreit nach Blut, meine Liebe«, erläuterte der Kommandant. »Es kamen viele Menschen in dem Feuer um, und um die Autorität dieser Institution zu wahren, bin ich gezwungen, ein Opfer zu bringen.
Leider.«
»Die Autorität dieser Institution?«
»Aber ja! Die Festung von Tulanbaar stellt die höchste gesetzliche Autorität nördlich von Usmar und Savalgor dar! In meiner Eigenschaft als Kommandant der Festung bin ich zugleich höchster Richter, Landvermesser, Brunnenmeister, Steuereintreiber, Lehnsherr und Feldmarschall von Südwest-Akrania. Bei all den Tributen, die ich im Namen der Hierokratie dem gemeinen Volk abverlangen muss, hat es einen unwiderruflichen Anspruch auf Vergeltung bei Verbrechen gegen die Allgemeinheit. Würde ich lange säumen, könnte es zu Unzufriedenheit, Unruhe, Aufbegehren und anderen Umtrieben kommen. Das könnte gar Menschenleben kosten! Soll ich so etwas zulassen? Nein! Ihr würdet mir gewiss beipflichten, denn ich habe sogleich bemerkt, dass Ihr, mit Verlaub gesagt, eine junge Dame von Bildung und scharfem Verstand seid. Das Volk hat ein schweres Los zu tragen. Steuern, Abgaben, den Zehnten und so weiter und so weiter. Da kann man es nicht im Stich lassen.«
»Steuern, Abgaben, den Zehnten ... damit Ihr Euch hier schmücken könnt wie die Mulloohs zum Erntefest, nicht wahr?«, erwiderte Leandra, deren Laune sich plötzlich sehr abgekühlt hatte.
»Ich darf Euch darauf aufmerksam machen, meine Liebe«, erwiderte der Kommandant süßlich, »dass Ihr soeben, in diesem Moment, selbst in all dem Luxus schwelgt! Wer aus der herrschenden Klasse würde denn freiwillig so viel Verantwortung tragen wollen, wenn es als Lohn dafür nicht diese kleinen Annehmlichkeiten des Lebens gäbe?«
Leandra war nicht
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