Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
strich die Kapuze zurück und sah in ein tränenüberströmtes Gesicht.
»Tut mir Leid ...«, murmelte Munuel leise. »Du bist wohl...«
Der Mann blickte auf und sah Munuel an. Der alte Magier schrak zurück. Seine Augen waren wahrhaftig vom Tod gezeichnet. Auch Leandra sah es, und auf einmal konnten sie sich beide deutlicher als je zuvor ausmalen, wie es war, in der Gewissheit des Todes die letzte Nacht seines Lebens in der Todeszelle - zu verbringen.
Munuel half Victor auf die Beine. Trotz seiner robusten körperlichen Konstitution war er sehr schwach.
Möglicherweise hatte man ihn in den Tagen zuvor geprügelt und gefoltert, ihm nichts zu essen gegeben oder ihm noch schlimmere Dinge angetan.
»Los«, ächzte Munuel, während er versuchte, Victor zurück auf sein Pferd zu hieven. »Wir müssen uns einen Platz zum Übernachten suchen.«
Sie ritten los und fanden nach einer Weile eine einsame Scheune.
Sie hatten den Weg nach Lakkamor eingeschlagen, das noch ein Stück weiter von der Morneschlucht entfernt lag als Tulanbaar. Dort würde man Victor nicht erkennen, da er hier nach seiner Verhaftung nicht durchgekommen war.
Die Scheune lag abseits jeglicher Behausung, etwa einen Steinwurf vom Weg entfernt an einem Waldrand. Munuel entschied, dass dies wohl der beste Platz wäre, den sie heute Nacht noch finden konnten. Zum Glück war die Scheune randvoll mit Stroh.
Sie waren alle sehr müde. Victor war schon halb bewusstlos, eine Stunde des Ritts hatte seine geringen Kräfte völlig erschöpft. Er sank ins Stroh und schlief sofort ein. Sie deckten ihn mit einer Lage Stroh zu und überließen ihn dem Schlaf. Munuel wandte eine kurze Iteration an, um herauszufinden, ob sein Zustand kritisch war. Nein, stellte er fest, er würde sich wieder erholen. Morgen brauchte er dringend etwas zu essen, aber die Nacht würde er überstehen.
Für sich selber entschied er, eine Weile mit der Zauberei auszusetzen. In der gesamten letzten Woche - angefangen mit der Beobachtung des Palastes, über den Gewaltritt und den Kampf gegen den Dämon, bis hin zu diesem Augenblick, da sie in dieser Scheune angekommen waren - hatte er seine magischen Fähigkeiten beinahe überstrapaziert. Er fühlte sich geistig und körperlich ausgelaugt, trug ein ständiges hohles Loch im Kopf mit sich herum. Früher, vor zwanzig oder dreißig Jahren, da hatte er dauernd so gelebt. Aber die Magie forderte ihren Tribut.
Er legte sich ächzend ins Stroh und schloss die Augen.
Wohl eine halbe Stunde lag er da, konnte aber, obwohl er todmüde war, nicht einschlafen. Dann merkte er, dass auch Leandra noch nicht schlief.
Sie schob sich an ihn heran. »Sag mal, was ist mit diesem Kommandanten? Was hattest du gegen ihn in der Hand, dass er plötzlich so gefügig wurde?«
Munuel seufzte. »Lorin von Jacklor - tja, das ist so ein Fall. Ein klarer Beweis für meine größte Schwäche, wenn du so willst. Seine Eltern starben früh, bei einer großen Überschwemmung, wenn ich mich recht erinnere. Sie waren Hofverwalter beim Freiherrn von Jacklor, einem Mann aus dem Hochadel, der aber nicht besonders reich war. Der Freiherr nahm nach dem Tod der Eltern Lorin an Kindes Statt an, da er selber nie Kinder hatte. Er gab ihm sogar seinen Namen. Der Bursche aber entwickelte sich anders, als man es hätte erwarten können. Er trieb sich in schlechter Gesellschaft herum, entwickelte kriminelle Neigungen und schlug sich mit finsteren Geschäften durchs Leben. Die Möglichkeiten, die ihm der Freiherr bot, verschmähte er.«
»Und wie hast du ihn kennen gelernt?«
»Nun, das war letztes, nein, vorletztes Jahr in Savalgor. Ich kannte ihn schon von früher her, denn er verdiente sich manchmal ein paar Folint, indem er dem Cambrischen Ordenshaus Meldungen über den Verbleib gewisser Personen verschaffte - wenn du weißt, was ich meine.«
Leandra nickte.
»Im Herbst vorletzten Jahres«, fuhr er fort, »war ich für ein paar Wochen in der Hauptstadt. Ich vertrat Jockum, der nach Veldoor gereist war. Dann gab es ziemlich viel Aufregung, weil ins Zunfthaus der Schiffsbauer eingebrochen worden war. Bücher und Aufzeichnungen über Rumpfkonstruktionen waren gestohlen worden.
Weißt du, was das bedeutet?«
»Hm, nein.«
»Nun, das sind streng gehütete Geheimnisse. Spezielle Arbeitsweisen wie zum Beispiel dauerhafte Holzverspleißungen und wichtige Berechnungsmethoden sind dort verzeichnet - Dinge, wofür die Schiffsbauer von Savalgor berühmt sind. Diese Bücher sind nicht nur
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