Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
Luft.
Sie hielten die Pferde an, denn fortreiten konnten sie nun nicht mehr. Jedenfalls nicht, wenn sie für Victor etwas tun wollten. Sonst hätten sie vielleicht in den Wald fliehen können. Sie standen nah beisammen und blickten betroffen zum Himmel hinauf. Das Vogelmonster kam in einem Bogen aus kaum einem Steinwurf Entfernung herangesegelt, und die Gestalt, die auf seinem Rücken saß, hätte ein großer hagerer Mann in einem dunklen Umhang sein können.
Der Sucher sah aus wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Jedenfalls, soweit sich das von hier aus beurteilen ließ.
Das einzig Erschreckende an ihm war, dass aus jeder seiner Körperöffnungen dumpfes, violettes Licht zu dringen schien, aus den Nasenhöhlen, den Augen, dem Mund und selbst den Ohrlöchern - so als wäre das gesamte Wesen ausgehöhlt und von stygischem Licht erfüllt.
Leandra hob entschlossen die Jambala. »Geh du und suche Victor!«, knirschte sie Munuel zu. »Ich werde mit diesem Dreckstück schon fertig!«
Munuel schüttelte den Kopf. »Du kommst nicht an ihn heran, wenn er auf dem Rücken dieses Monstrums bleibt.
Du wirst nach Victor sehen, und ich kümmere mich um den Sucher! Geh schon!«
»Aber Munuel! Er ist doch ein Dämon, oder nicht? Wie willst du denn ... ?«
Er schenkte ihr einen kalten Blick. Dann zog er den Yhalmudt unter dem Kragen hervor und starrte sie grimmig an. »Glaubst du etwa, du kleine Göre, dass du die Einzige auf der Welt bist, die über Macht verfügt? Los, verschwinde schon, bevor ich dir Beine mache!«
Munuels plötzliche Kampfeslaune und sein Zynismus gaben ihr einen Schub. Sie grinste ebenso grimmig zurück, riss dann an den Zügeln und ließ Bushka davonschießen.
Wenige Sekunden später war sie im Wald. Sie ritt nicht weit hinein, sondern hielt sich am Rand. Wenn Victor sich dorthin gerettet hatte, dann würde er sicher dort bleiben. Dass ihm etwas Ernsthaftes zugestoßen war, daran mochte sie nicht denken. Sie war fest entschlossen, nicht mehr auf ihn zu verzichten, bis diese Sache durchgestanden war. Und wenn alle Höllenmächte ihm auf den Fersen sein sollten - sie würde ihn da herausschlagen.
Einige Sekunden später wünschte sie sich, sie hätte es weniger dramatisch formuliert, denn wenn es ihre Vorstellung war, welche die folgende Szene herbeibeschworen hatte, dann hatte sie sich selber eine Falle gestellt.
Von irgendwoher hörte sie Victors Keuchen, und der Raum zwischen den Bäumen war von dumpfen Lichtblitzen und Funken erfüllt. Irgendwas hob sie aus dem Sattel, aber sie war auf alles vorbereitet und rollte sich über die Schulter ab, ehe sie sogleich wieder auf den Beinen stand. Sie spürte, wie die Jambala nur so vor Energie sprühte, und den Schatten, der sich in diesem Augenblick wie ein riesiger Bär vor ihr erhob, zerteilte sie mit einem schnellen, heftigen Streich in zwei Hälften, wobei sie einen wütenden Fluch ausstieß.
»Victor!«, schrie sie. »Wo bist du?«
Sie hörte ein Gurgeln, das irgendwie menschlich klang, und dann ein Geräusch, als würde Metall in einen Baum hacken. Danach ertönte ein Klirren, und sie hörte ein ersticktes: »Leandra!« von rechts. Sie wandte sich um und rannte in diese Richtung.
Kurz entschlossen wirkte sie eine Iteration dritten Grades, um ein Licht herbeizurufen. Es klappte auf Anhieb.
Das Waldstück wurde von einem kleinen hellen Licht erleuchtet, das zwei Ellen über ihrem Kopf schwebend ihr durch die Bäume folgte. Sie nickte befriedigt, dass sie die eineinhalb Tage in der Scheune genutzt hatte, sich mit der Jambala und einigen wichtigen Iterationen zu beschäftigen.
Dann sah sie Victor. Vier oder fünf Schattenwesen drangen auf ihn ein, zwei davon mit rostigen Krummsäbeln bewaffnet, die andern mit bloßen Händen oder Klauen.
Höchste Zeit, zischte sie sich selber zu. Sie ballte kurz die Faust, in der sie die Jambala hielt, und der engste nur denkbare Kontakt kam zwischen ihr und dem Schwert zustande. Während sie nach vorn weiterstürmen wollte, zog die Jambala sie nach rechts, und da sah sie schon den Grund: Ein Wurm, ein ekliges, riesiges Ding von der doppelten Größe einer Würgeschlange schoss mit beängstigender Geschwindigkeit zwischen den Bäumen hervor und auf sie zu. Sie stieß ein Japsen aus, aber dann blitzte die Jambala auf und führte ihren Arm mit sanfter Gewalt zu einem ausholenden Schwung, der den schwierigen Schlag auf einen schmalen, sich frontal nähernden Gegner möglich machte.
Helle Funken und ein weißlicher Blitz
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