Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
Leandra galoppierten davon, ohne von seinem Abstieg etwas bemerkt zu haben. Till floh instinktiv seitlich in den Wald, um dem fliegenden Monster zu entkommen. Das Untier indes besaß noch eine Eigenart, die Victor im ersten Augenblick gar nicht deuten konnte. Dann aber sah er, dass noch ein anderes Wesen auf seinem Rücken saß. Das musste der von Munuel erwähnte Sucher sein.
Ein kreischender Schrei ließ ihn herumfahren. Das andere Vögelmonster, das er bereits verletzt hatte, befand sich im Angriffsflug. Victor sah seine Armbrust im Gras liegen und stürzte sich auf sie. Mit zehn schnellen Schritten hatte er die Bäume des beginnenden Waldes erreicht und war vorläufig in Sicherheit. Das Untier raste heran, drehte ab und fing sich mit Mühe wieder, um Höhe zu gewinnen. Ein weiterer Schrei ertönte. Victor konnte deutlich das große Loch im Flügel sehen. Möglicherweise war es deswegen so groß, weil die Flügel mit einer ledrigen Haut bespannt waren und ... ach was! Victor schalt sich einen Narren. Der Grund war ganz einfach: All diese Wesen waren Ausgeburten des Reiches der Schatten und der Toten - dem Reich, wo Verwesung, Verfall und Fäulnis herrschte. Es wäre geradezu grotesk, gäbe es dort so etwas wie gesunde elastische Haut oder gar eine vitale Fähigkeit, die Wunden verheilen ließe. Nein, all das musste marode, verfallen und vom Niedergang gekennzeichnet sein. Das war der Grund für dieses riesige Loch! Victor beglückwünschte sich zu dieser Erkenntnis. Sie würde ihm noch von Nutzen sein.
Er beobachtete das Vogelmonster, das aufgeregt vor dem Waldrand kreiste und immer wieder Schreie ausstieß.
Was sollte er nun tun? Munuel und Leandra mussten schon eine Viertelmeile entfernt sein; er hoffte, dass sie bald sein Fehlen bemerkten. Aber würden sie dann umkehren, oder wollte er das überhaupt? Sie würden riskieren, dem Feind geradewegs in die Arme zu laufen. Das brachte Victor darauf, dass er hier noch lange nicht in Sicherheit war, auch wenn das Vogelmonster ihn zwischen den Bäumen nicht so leicht angreifen konnte.
Seine Schreie stieß es mit Sicherheit deswegen aus, um seine Kampfesgenossen hierher zu rufen.
Victor trat einen Schritt zwischen den Bäumen hervor und starrte in die Dunkelheit zum Flussufer. Wie weit mochten sie sich bereits von der Schmiede entfernt haben? Eineinhalb Meilen? Eindreiviertel vielleicht?
Dann sah er im Laufschritt zehn bis fünfzehn dunkle Gestalten herannahen, die meisten so groß wie Männer, aber auch zwei oder drei, die deutlich größer waren. Er hob die Armbrust und zielte sorgfältig auf das Vogelmonster. Der Bolzen schwirrte los, und er vernahm ein Aufklatschen und einen klagenden Schrei. Die Kreatur sackte ein Stück ab, fing sich aber wieder. Die Flügel, dachte er, die Flügel. Vogelmonster ohne Flügel sind so harmlos wie kleine Küken. Innerhalb einer halben Minute sandte er noch zwei weitere Bolzen auf die Reise.
Einer davon musste einen Kopf getroffen haben, denn Victor sah, wie aus einem der hässlichen Schädel etwas absplitterte und dann der Kopf mitsamt dem Hals nach unten fiel und wie ein totes Stück Tau herabhing. Der Schrei des Wesens war markdurchdringend. Der zweite Bolzen traf abermals einen Flügel, der nach dem Treffer regelrecht abknickte. Sekunden später klatschte das Wesen in den Fluss. Victor warf die Armbrust weg, zog sein Schwert und rannte grimmig entschlossen in schneller, aber steter Gangart in den Wald hinein Richtung Norden.
Leandras Aufschrei ließ Munuel herumfahren. Sie schlug mit der Jambala nach einem herabfahrenden Vogelschnabel von der Größe eines kleinen Bierfasses. Sie verfehlte das Monstrum, das für einen Moment zurückfiel, dann aber heftig mit den Flügeln schlagend wieder Raum gewann. Indessen war sie schon an Munuel herangekommen.
»Victor ist fort!«, rief sie.
Munuel blickte erschrocken zurück. Sie hatte Recht.
Es war nicht mehr die Zeit, zu entscheiden, ob man sich um ihn kümmern sollte oder nicht. Der Junge war mutig, und er hatte mehr als verdient, dass man ihm half - komme, was da wolle. Aber in dem Augenblick, da Munuel sein Pferd herumreißen wollte, sah er etwas, das seinen Herzschlag für Sekunden aussetzen ließ.
Er deutete in die Luft hinauf. »Da, Leandra! Auf dem Rücken des Monstrums! Der Sucher!«
Leandra fuhr herum. Wie zur Bestätigung hörte sie ein meckerndes Lachen herabhallen, und ein rot-violettes Licht waberte für einen Moment wie ein magischer Wellenstoß durch die
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