Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
einer kleinen Plattform an, die von einer kniehohen
Zinnenmauer umgeben war. Ihr stygisches Licht war inzwischen
erloschen, aber sie sah auch so, dass Alina nicht hier war. Hier
oben gab es nichts als neblige schwarze Nacht, kaum erhellt
durch ein paar Sterne, deren Licht durch ein Sonnenfenster hoch
über dem Mogellsee hereinfiel.
Dann sah sie es: Dort lag ein Kleidungsstück. Sie bückte sich.
Es war Alinas geliehener Lederwams.
Mit einem Schluchzen ließ sie sich zu Boden sinken. Sie brach in
verzweifelte Tränen aus:
Alina hatte es wirklich getan!
Es schien ihr unbegreiflich. Sie hatte sich mit ihr fabelhaft verstanden, nach so kurzer Zeit schon, und das vielleicht großartigste Gefühl, sie zu kennen, war der Stolz darauf, dass eine junge
Frau von solchem Gerechtigkeitsempfinden und solcher Menschlichkeit die Shaba von Akrania war.
Und von solchem Mut.
Roya kämpfte sich in die Höhe und starrte in die Nacht hinaus.
Ja, Mut hatte Alina besessen, unglaublich viel Mut. So dumm und
verwerflich ihre Tat auch gewesen war, sie hatte ein Übermaß an
Mut und Selbstaufopferung erfordert, und Roya fragte sich, ob sie
irgendjemanden kannte, der das fertig gebracht hätte.
Sie weinte bitter.
Irgendwann, sie hatte sich schon halb entschlossen, wieder hinabzusteigen, hörte sie ein leises Geräusch. Es hatte verwirrend
geklungen, wie ein helles Kichern. Zuerst glaubte sie, es wäre nur
der Laut eines Tieres gewesen, einer Maus oder einer Ratte vielleicht, aber dann wurde es wieder hörbar, dieses Mal lauter.
Mit einem ungläubigen Ächzen raffte sie sich auf und steuerte
auf den östlichen Teil der Zinnenmauer zu, hinter dem sie das
Kichern zu hören geglaubt hatte.
Dort draußen – in der Luft?
Als sie die Mauer erreicht hatte, stemmte sie sich hoch – und ihr
stockte der Atem.
Dort draußen in der Luft schwebte Alina, von einem seltsamen,
nebligen Leuchten umgeben. Sie trug nichts als ihr langes Unterhemd, ihr Gesicht war von einem breiten Lächeln überzogen, und
es schien, als spräche sie mit jemandem, ganz leise und vertraut,
wie mit einem geliebten Menschen.
»Alina!«, keuchte Roya.
Alinas Kopf fuhr herum, ihre Züge zeigten einen plötzlichen
Ausdruck von Bestürzung. Ihr rechter Arm hob sich Roya entgegen.
Roya streckte ebenfalls den Arm aus, um sie zu erreichen; doch
sie schwebte etliche Ellen entfernt dort draußen in der Luft, es
war viel zu weit. Roya verlor das Gleichgewicht. Mit einem Aufschrei kippte sie über den Rand und stürzte in den bodenlosen
Abgrund.
*
Seit Tagen machte sich Leandra bittere Vorwürfe. Rasnor hatte
ihr vor über einer Woche berichtet, sie hätten Roya erwischt, und
es war dieses hässliche Wort gewesen, das ihr dunkle Vorahnungen eingegeben hatte. Danach jedoch war er sämtlichen Fragen
ausgewichen, wo Roya denn nun sei und ob sie sich in Sicherheit
befände.
Inzwischen glaubte Leandra, einen schlimmen Fehler gemacht
zu haben. Diesem Rasnor auch nur einen Hauch Vertrauen geschenkt zu haben war einfach falsch gewesen. Sie hatte nicht
gewagt, ihren Freunden von ihrem Verrat zu berichten, sie hatte
ja wirklich nur im Sinn gehabt, Roya zu schützen. Dass Rasnor
sich nun weigerte, ihr etwas über Roya zu sagen, hielt Leandra
für das schlimmste aller Zeichen. Sie nahm an, dass Roya etwas
zugestoßen sein musste; dass sie vielleicht versucht hatte zu entkommen und von den Drakken bei ihrem Fluchtversuch getötet
worden war. Dieser Gedanke lastete furchtbar auf ihr. Rasnor war
neuerdings nie erreichbar, sie glaubte, dass er sich verleugnen
ließ oder sich absichtlich aus ihrer Nähe fern hielt.
Und dann war da noch diese seltsame Stimme in ihrem Kopf.
Offenbar versuchte sie langsam, das Kommando zu übernehmen.
Leandra fragte sich, ob es einen Zusammenhang zwischen der
Stimme und ihren immer wiederkehrenden Kopfschmerzen gab.
Wenn sie tatsächlich so etwas wie diese von ihr vermutete Krankheit hatte – eine Geschwulst im Kopf –, fing man dann an, Stimmen zu hören? Und schließlich war da noch das, was Ulfa ihr gesagt hatte – dass sie eine Gefahr wäre. Leandra fürchtete sich
inzwischen vor sich selbst. Ihre quälende Angst und Ungewissheit
hatte sie in den letzten Tagen zu einer unleidlichen Person gemacht. Sie hatte die Nähe anderer gemieden, sich zurückgezogen
und verzehrte sich vor Elend und Furcht vor ihrem Schicksal.
Heute Morgen, nach einer schlaflosen Nacht, die beinahe wie eine Folter gewesen war, hatte es sie hinauf auf das Palastdach
getrieben.
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