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Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens

Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens

Titel: Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harald Evers
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Stygiums, aber keinen Gott. So lernte es
jedes kleine Kind in der Schule. Es gab nur wenige Orden und
Glaubensgemeinschaften in der Höhlenwelt, die einen personifizierten Schöpfer verehrten, und sie waren arm an Mitgliedern.
Man verneigte sich in Respekt vor dem Prinzip der Kräfte, sandte
ihm sogar Gebete zu, doch einen Gott – den gab es anerkanntermaßen nicht.
Azrani fühlte plötzlich Zweifel an dieser Einstellung in sich aufkommen. Angstvoll drehte sie sich um und warf zögernde Blicke
über den Mauerrand in die Höhe.
Es war ein sehr fremdartiges Schiff, das dort im Einschnitt zwischen den Bergen aufgetaucht war; es wirkte von der Seite her
flach gedrückt, und die Segel konnten kaum dazu dienen, Wind
zu fangen. Aber das hatte es vermutlich auch gar nicht nötig. Es
schien nur aus Wolken, Wind und Licht zu bestehen. Ruhig trieb
es vorwärts, während die Wolken einen wütenden, aufwallenden
Tanz um den schlanken Leib des Schiffes herum vollführten und
es von Lichtspeeren aus dem Hintergrund umtanzt wurde. Fasziniert beobachtete Azrani das Schiff, nur war diesmal ihre Angst
weitaus größer als bei allem anderen, was sie bisher hier erblickt
hatte. Sie hatte das beklemmende Gefühl, sich nirgends verstecken zu können, sollte irgendetwas oder irgendjemand aus diesem Schiff sie finden wollen. Dann entdeckte sie etwas auf der
Oberfläche des Schiffskörpers und der Segel, das ihr eine dumpfe
Vorahnung eingab. Es waren linienartige Muster, die sie an den
Schmuck der Statuen in den Tälern erinnerten und an den der
Häuser in der versunkenen Stadt. Feine Linien, die wie mit Pflanzen geschmückte Seile den Schiffskörper umhingen, fremdartig
und zugleich vertraut, schlicht und doch glanzvoll. Azrani erhob
sich kurz und versuchte einen Blick hinab ins Tal zu werfen, wo
die Sechsbeiner wie Götter zwischen den arbeitsamen kleinen
Wesen standen und sie… beaufsichtigten.
War es das?
War es kein Beschützen, sondern das Ausüben einer Aufsicht,
einer Herrschaft?
Das Atmen fiel ihr schwer. Gefühle drängten sich in ihr Gemüt,
die über das hinausgingen, was ihre Augen sehen konnten. Etwas
stimmte nicht in diesem Gefüge; sie hatte den Eindruck, dass sie
gerade eine Darstellung dessen erlebte. Einer plötzlichen Ahnung
folgend, richtete sie sich wieder auf.
Ja, dachte sie, ich bin hier Zuschauer. Kein Teilnehmer.
Mit ruhigen Bewegungen stieg sie abermals auf die Mauer,
blieb, als sie oben war, für Momente in der Hocke, richtete sich
dann aber mutig auf. Prüfend glitt ihr Blick über die Szene. Niemand schien sie wahrzunehmen.
Das Wolkenschiff verharrte am Rand des Tals hoch in der Luft,
einen Teil seines Hecks in dem Wolkenkanal verborgen, aus dem
es aufgetaucht war. Noch immer wallten die Wolken heftig auf
und nieder. Ein dumpfer, tief klingender Singsang hatte sich von
dem Schiff erhoben und flutete ins Tal hinab. Azrani sah, dass alle
Wesen dort unten erstarrt waren und zu dem Wolkenschiff aufsahen.
Viele hatten sich niedergekauert, niemand arbeitete mehr, die
Wagen und Karren standen still. Der tiefe Ton hatte etwas Dramatisches an sich, und selbst Azrani, die wusste, dass sie von all
dem nicht wirklich betroffen war, konnte sich der Wirkung kaum
entziehen. Etwas wollte ihr befehlen, sich auf die Knie niederzulassen und dem Schiff zu huldigen, sich in seine Richtung zu verneigen; nur mit Mühe gelang es ihr, sich diesem Impuls zu widersetzen. Mit hämmerndem Puls blieb sie stehen, die Arme vor der
Brust überkreuzt, so als fröre sie – und so fern von dem, was sie
empfand, war das auch nicht. Es war eine Kälte der Seele, eine
dunkle Angst, die sich ihrer bemächtigt hatte. Etwas würde jetzt
geschehen, das spürte sie.
Im Rumpf des Wolkenschiffes entstanden. Plötzlich in einer langen Reihe große Öffnungen, etwa dort, wo bei einem normalen
Schiff die Wasserlinie lag. Zuerst waren sie dunkel, dann füllten
sie sich plötzlich mit einem prachtvollen Farbenspiel, aus denen
sich Lichtkugeln erhoben, die in Spiralmustern die Luft durchkreuzten. Aus dem Tal erklang ein tausendstimmiges Aufstöhnen.
Die Lichtkugeln zogen farbige Schweife hinter sich her, die vor
bunten Funken sprühten, und sie stießen ihrerseits wieder Lichtpunkte aus. Bald war der ganze Himmel um das Wolkenschiff herum von einem eindrucksvollen Lichterspiel umgeben.
Doch Azrani, noch immer von bedrückenden Empfindungen erfüllt, aber inzwischen auf seltsam nüchterne Weise beobachtend,
glaubte zu spüren, dass es in

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