Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens
an Hellamis Brust.
»Azrani!«, ächzte Ullrik. »Verdammt! Seit Tagen ist sie in der
Pyramide eingeschlossen, und wir sitzen hier auf Chjant fest!« Er
starrte den Strand hinauf. »Und es wird noch Tage dauern, vielleicht über eine Woche, bis wir auf eine Ansiedlung stoßen. Marina wartet darauf, dass ich ihr einen Würfel bringe!«
Entschlossen bückte er sich, die Kopfschmerzen dabei verbissen
ignorierend, um ihre Habe zusammenzuraffen.
»Los, wir brechen auf.«, stieß er hervor. »Wir kommen zwar viel
zu spät, aber ich kann keine Sekunde mehr hier sitzen bleiben!«
Hellamis Miene, vor kurzem noch voller Erleichterung und Zuversicht, hatte sich zu vorahnungsvoller Betroffenheit verzogen.
Wortlos setzte sie Cathryn ab und half mit, ihre Sachen in den
Rucksäcken zu verstauen.
Cathryn, der noch immer Tränen über die Wangen kullerten,
zog ihre Knie an und umschloss sie mit den Armen. Nach einer
Weile sah sie auf. »Hellami, Ullrik.«
Die beiden unterbrachen ihre Arbeit und blickten zu Cathryn.
»Ich… ich glaube nicht, dass es mit Azrani zu tun hat«, sagte sie
schniefend und wischte sich die Wangen trocken.
»Ich glaube… es war Roya.«
Hellami und Ullrik sahen sich betroffen an.
*
Markos Füße waren wie Flügel; bergab rennend fanden sie ein
ums andere Mal einen guten Tritt auf dem felsigen Pfad, sodass
er in Windeseile unten am Wasser ankam. Dieses Mal dachte er
nicht an seine bescheidenen Fähigkeiten als Schwimmer oder
daran, dass ihm seine Kleider hinderlich wären. Mit einem gestreckten Kopfsprung warf er sich ins Wasser und schwamm mit
energischen Zügen auf die Insel zu.
Es war ein junger Drache, der dort lag, und als in Marko die
Gewissheit wuchs, dass es Ophaia sein musste, stiegen ihm die
Tränen in die Augen. Ophaia war wie Roya, ein zartes, junges
Mädchen mit ungewöhnlich viel Humor für einen Drachen – aber
die jungen Drachen waren ohnehin weniger ernsthaft als die alten.
Er holte alles aus sich heraus, um ein paar Sekunden zu gewinnen – in der Hoffnung, ihr noch irgendwie helfen zu können. Aber
mit jedem Zug, den er schwamm, wurde das Bild deutlicher: Blut
war über den Felsen geströmt, und Marko wurde klar, dass er
noch nie das Blut eines Drachen gesehen hatte. Es war so rot wie
das der Menschen, und das trieb ihm Tränen in die Augen.
Ophaias Brustkorb war verbrannt wie von einem magischen
Feuer, und die linke Schwinge, die ins Wasser hing, war eindeutig
gebrochen. Ihr langer Hals hing schlaff und leblos zum Wasser
herab, ihr Schädel war zur Hälfte untergetaucht.
Marko erreichte die Insel, kletterte auf die Felsen und ging neben dem toten Drachen in die Knie. Er hatte die Drachen lieben
gelernt, nicht minder als Roya es tat, und was er hier sah, zerriss
ihm das Herz. Voller Elend fuhr er ihr mit der Hand über den Drachenhals. Die Haut junger Drachen fühlte sich auf geheimnisvolle
Weise seidig und weich an. Ihr Körper war noch warm…… und
endlich verstand Marko.
Nein, das war kein Unfall gewesen! Jemand war in die Kolonie
eingedrungen! Er schoss in die Höhe und blickte sich um. Die Halle lag still da, ein paar Drachenfeuerkugeln brannten hoch droben
unter der Felsendecke – doch nirgends war etwas von einem Eindringling zu sehen.
Roya hätte eigentlich hier sein sollen – undenkbar, dass sie dieses Unglück übersehen haben könnte. War sie denn hier auf der
Felseninsel gewesen?
Vielleicht hatte sie den Kampf – denn es musste einer stattgefunden haben – aus der Ferne gehört und war ins Wasser gesprungen…
Nein. Marko schüttelte den Kopf. In diesem Fall hätte sie sich
vorher nicht völlig ausgezogen. Das war nur für ihn gewesen. Als
sie gesprungen war, hatte sie von diesem Unglück gewiss noch
nichts geahnt. Markos Herz pochte dumpf. Wenn Roya etwas passiert war, wenn sie am Ende tot war, würde er durchdrehen. Er
war sicher, dass er diesen Schmerz nicht würde verkraften können.
Von der Halle des Großen Sees zweigte eine Vielzahl von kleinen
und großen Gängen und Tunneln ab; er konnte sie gar nicht alle
überblicken. Roya mochte sonstwohin geschwommen sein… oder
tot auf dem Grund des Sees liegen, flüsterte ihm eine gemeine
Stimme zu. Der See war sehr unregelmäßig geformt, wie ein flackernder Stern hatte er sich windende Strahlen in alle möglichen
Richtungen ausgesandt. Marko fuhr herum, und sein Blick zuckte
in die Höhe, als er an sein Bauwerk dachte, das dort oben unter
der Höhlendecke hing: der Rohbau seines
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