Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens
Gedanken fassen konnte, war der obere Kegel jedoch vollendet. Das dröhnende Rumpeln verebbte, und
Augenblicke später wurde ein knisterndes Zischen hörbar. Zwischen den beiden Kegelspitzen, die gut 200 Ellen auseinander
lagen, entstand ein seltsames energetisches Schauspiel. Ein
orangeroter Lichtstrahl flammte zwischen ihnen auf und hüllte
Azrani, die inzwischen aufgestanden war, in eine Blase gelblich
flimmernder Energie.
Marina kreischte voller Panik Azranis Namen.
Aber Azrani hörte sie nicht. Sie starrte nach oben, dem orangeroten Strahl entgegen, und gab keinen Laut von sich.
Die Blase, in der sie gefangen war, stieg für Momente in die Höhe, erstrahlte dann hell nach allen Seiten und wurde mit einem
plötzlichen Aufwallen von Energie nach oben gesogen, auf die
Spitze des Deckenkegels zu. Innerhalb von Sekunden war sie
oben angelangt und löste sich in einem grellen Blitz auf.
Und mit ihr Azrani.
Marina stieß einen spitzen Schrei aus.
Das Zischen erstarb so plötzlich, wie es gekommen war. Nur ein
seltsamer Widerhall des Schauspiels blieb noch für Momente erhalten, dann kehrte Stille ein.
*
Diese leise schwelende Wut hatte ihn wieder gepackt.
Missmutig starrte Rasnor die vier Männer an, die sich in dem
kleinen, abgelegenen Raum versammelt hatten. Der verwinkelte
Bau des Waisenhauses von Usmar war ein ideales Versteck für
seinen Stützpunkt, aber er fragte sich, ob er den Männern hier
wirklich trauen konnte, ob keiner unter ihnen war, der ihn vielleicht doch verraten würde.
Vielleicht wäre es besser, wenn er nur noch nach Usmar käme,
wenn es unbedingt nötig war, sich ansonsten aber draußen vor
der Küste aufhielt, auf einer der kleinen Inseln, auf der seine
Drakken ihre Flugschiffe in Höhlen versteckten. Bei ihnen wäre er
besser geschützt und hätte keinen Verrat zu befürchten.
Ein grimmiges Lächeln stahl sich in seine Züge, denn ihm fiel
ein, dass er wahrscheinlich in Kürze über ein Versteck verfügen
würde, das vollkommene Sicherheit versprach. Da mochte ihn
verraten, wer wollte, es war ohne Bedeutung.
Dennoch bezweifelte er, dass sein Argwohn der Grund für seinen inneren Zorn war. Diese vier Männer hier waren handverlesen. Irgendetwas anderes rumorte in seinen Eingeweiden und
bescherte ihm eine Stimmung der Unzufriedenheit, des Ärgers
und des Misstrauens. Er hatte mit seiner schlechten Laune sogar
diesen herrischen Ötzli beeindrucken können; es schien, als wäre
eine solche Stimmung ein Mittel, um anderen mehr Respekt abzutrotzen und von ihnen ernster genommen zu werden. Er glaubte
sich erinnern zu können, dass sein ehemaliger Hoher Meister
Chast ebenfalls so gewesen war. Auch er hatte gewirkt, als
schwelte eine ständige Wut in seinem Bauch.
»Wir haben eine schwere Aufgabe zu lösen«, eröffnete er den
Männern.
Die vier strafften sich. Einer von ihnen war Bruder Vandris, gerade von der MAF-1 zurückgekehrt, ein mittelgroßer, trügerisch
harmlos aussehender Mann Anfang der Fünfzig. Auf ihn konnte
Rasnor allemal zählen. Vandris war in Savalgor inzwischen als
Eindringling im Rat bekannt, als Spion und Mitglied der Bruderschaft. Er hatte keinen anderen Platz mehr auf der Welt als in der
Bruderschaft und kein anderes Ziel, als hier wieder aufzusteigen
und an Macht zu gewinnen. Nicht anders verhielt es sich mit Cicon, der neben Vandris stand, einem hoch gewachsenen Mann
mit einem Habichtgesicht, der ständig auf der Suche nach kleinen
Fehlern anderer war, um sie zu demütigen und zu unterdrücken.
Im Gegensatz zu früher fühlte sich Rasnor von ihm inzwischen
nicht mehr bedroht. Der Dritte war Thumbas, der Leiter des Waisenhauses, ein gewichtiger Mann mit dunklem Vollbart, der schon
seit einem halben Jahrhundert an diesem Ort weilte. Als Waisenkind hier aufgewachsen, hatte er seinen Weg bis hin zum Höchsten Amt dieses Hauses gemacht; es war völlig undenkbar, dass
er Heim und Hort verriet. Der Einzige, über den sich Rasnor nicht
völlig im Klaren war, stand mit erwartungsvoller Miene direkt neben ihm: Es war Martiel, ein junger Mann aus Savalgor, den er
aus seiner Zeit als Leiter des Skriptoriums von Torgard kannte.
Rasnor schätzte Martiel nicht sehr, er hielt ihn für unzuverlässig,
undiszipliniert und aufsässig. Er besaß jedoch zwei spezielle Qualitäten, die ihn für diese Sache tauglich machten: Zum einen war
er intelligent und phantasiebegabt, zum anderen empfand er einen leidenschaftlichen Hass auf Victor, den Ehemann der Shaba,
der
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