Höhlenwelt-Saga 7 - Die Monde von Jonissar
verstand Azrani, welch gewaltiges Risiko die Relies eingingen. Sollte die Sache schief gehen,
wären sie den Abon’Dhal schutzlos ausgeliefert.
»Wer ist das?«, flüsterte sie angstvoll an Laura gewandt und
musterte die Gestalt auf dem Rücken des Drachen.
Er war ein sehr großes Wesen, und als sie dem gelandeten Drachen näher kamen, der nun aufrecht dasaß und seine stechenden
Blicke über die kleinen Menschen unter sich schweifen ließ, korrigierte sie sich: Was ist das, hätte sie fragen müssen.
Die Kreatur saß weit oben auf der Schulter, knapp hinter dem
Halsansatz des Abon’Dhal, wo dessen Körperkrümmung einem
Reisegast das Sitzen erlaubte. Azrani kannte diesen Platz; viele
Tage hatte sie dort verbracht, auf ihrem Flug von Savalgor nach
Veldoor… Aber das war eine andere Zeit gewesen. Damals hatte
sie noch Vertrauen zu den Drachen gehabt, zu den Vierbeinern.
Das seltsame Wesen, das dort oben hockte, war mehr als doppelt so groß wie ein Mann und hatte vier Arme, von denen zwei
einen gemein aussehenden, großen Spieß hielten. Anstelle des
Kopfes besaß es nur eine flache Kuppel, die aus dem massigen
Schulterbereich wuchs. Ein breites Maul klaffte dort, wo der Hals
eines Mannes gewesen wäre. Die Augen konnte Azrani nur erahnen, vielleicht hatte es gar keine. Je näher sie dem Drachen kamen, desto mehr wirkte das Wesen, als bestünde es aus Glas, als
wäre es halb durchsichtig. Tatsächlich sah sie nun auch Lichtbrechungen im milchig weißen Körper. Sie keuchte entsetzt. Niemand hatte ihr gesagt, dass eine solch albtraumhafte Kreatur mit
im Spiel sein könnte. Auch Laura starrte verwirrt dem Biest entgegen; die Aussicht, in seiner Reichweite auf dem Drachenrücken
Platz nehmen zu müssen, lähmte ihrer beider Schritte.
»Das muss einer der Phryxe sein!«, flüsterte Mandal, der neben
Azrani herging. »Bei allen Göttern!«
Sie näherten sich dem Podest, auf dem Bordo kniete. Der Dorfälteste war von zweien seiner Männer flankiert und hatte sich
ehrerbietig dem riesigen Abon’Dhal zugewandt. Sie trugen Zeremoniengewänder und seltsame Hüte. Obwohl sie dabei waren,
eine hinterlistige Verschwörung gegen die ahnungslosen
Abon’Dhal in die Wege zu leiten, fühlte sich Azrani, als hätte ihre
letzte Stunde geschlagen – als würde sie nun tatsächlich an diese
tyrannischen Drachenwesen ausgeliefert werden, und alles wäre
nun vorbei.
»Allgütiger Engel!«, rief Bordo mit lauter Stimme. »Wir haben
zwei der Wrackfrauen gefangen und liefern sie euch hiermit aus!
Wir erflehen dein Wohlwollen und die Gnade des heiligen Mandalor, der rechten Hand Gottes!« Bordo verneigte sich tief.
»Der heilige Mandalor ist zufrieden mit euch!«, hallte eine knarrende, blecherne Stimme über den Platz. Viele Köpfe hoben sich
überrascht – die Stimme war aus dem breiten Maul der seltsam
gläsernen Kreatur auf dem Rücken des Abon’Dhal geschallt. Doch
es war offensichtlich, dass dieses Wesen nur ein Werkzeug des
Abon’Dhal sein konnte, dass es ihm seine Stimme lieh und selbst
nichts als eine niedere Kreatur in Diensten der Drachenwesen
war. »Geheiligter Engel!«, rief Bordo mit erhobenen Armen. »Du
sprichst zu uns! Wir danken dir! Dergleichen ist uns seit der Zeit
unserer Großväter nicht mehr zuteil geworden!« Schweigen breitete sich über den Platz.
»Der heilige Mandalor verlangt«, knarrte die Stimme der Kreatur, als hätte sie Bordos Worte gar nicht vernommen, »ihr sollt
das Wrack angreifen und alle Männer töten. Ihr sollt alle Frauen
gefangen nehmen und ausliefern.«
Azranis Herz verkrampfte sich, als die Menge schweigend verharrte. Eigentlich hätte eine solche Aufforderung ein Aufstöhnen
hervorrufen sollen, war doch dieser Befehl, jetzt, nach vierhundert Jahren der Nachbarbarschaft, ein überaus harscher Schritt –
auch wenn diese Nachbarschaft nicht auf Freundschaft beruhte.
Doch die Männer hier auf dem Platz schwiegen; sie hatten bereits
ein anderes Bild im Kopf. Sie würden schon heute oder morgen
Nacht die Drachen besiegt und ihre Frauen wieder haben – oder
tot sein.
Ein weiteres Mal wurde Azrani klar, welche Entscheidung die
Männer des Dorfes getroffen hatten. Sie würden siegen oder sterben. Oder konnten sich die Abon’Dhal etwa gar nicht leisten, die
Männer zu töten? Dann würden ihnen binnen einer Generation die
Menschen aussterben, und sie hätten niemanden mehr für ihre
Seelenkammern…
Mit Verwirrung, Angst und zahllosen Fragen im Herzen kamen
sie vor dem
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