Höhlenwelt-Saga 7 - Die Monde von Jonissar
Drachen zum Stehen. Mit einem Seitenblick stellte
Azrani fest, dass Laura zitterte. Nie war sie einem so großen Drachen so nahe gewesen! Furchtsam blickte sie in die Höhe, den
Kopf ganz in den Nacken gelegt; der gewaltige Schädel des
Abon’Dhal schwebte turmhoch über ihr und starrte sie an, als
wäre sie nicht viel mehr als ein niederes Insekt.
Dann geschah etwas, das Azrani fast in Ohnmacht sinken ließ.
In der Höhlenwelt verlief das Besteigen eines Drachenrücken
stets so, dass der Drache sich niederließ und seine Schwinge
senkte, sodass man aus eigener Kraft auf seinen Rücken klettern
konnte. Auch Meados hatte es so gehalten. Dieser Abon’Dhal aber
streckte mit unerwarteter Plötzlichkeit seine monströse Klauenhand aus, pflückte Laura, die einen entsetzten Schrei ausstieß,
vom Boden weg und hob sie mit der Geschwindigkeit eines fliegenden Pfeils zu seiner Schulter hinauf. Als hätten die beiden diese Bewegung schon hundertmal vollführt, packte der Phryx mit
einem seiner massigen Arme die zappelnde und schreiende Laura
und pflanzte sie vor sich zwischen zwei Hornzacken auf den
Rücken des Abon’Dhal.
Bevor Azrani auch nur einen weiteren Atemzug tun konnte, hatte sie dieselbe Drachenklaue gepackt. Sie überbrückte die 20 Ellen Höhenunterschied in so kurzer Zeit, dass ihr der Magen in die
Kehle stieg. Das rasend aufkommende Schwindelgefühl ersparte
ihr, den Moment allzu genau mitzubekommen, in dem der entsetzliche Phryx sie mit seinem letzten freien Arm packte und zu
sich zog.
Das Wesen stank!
Zwischen Tränen des Entsetzens würgte sie Magensäfte hoch,
denn etwas so grauenvoll Stinkendes war ihr noch nie untergekommen. Selbst der urinhafte Gestank der Drakken erschien ihr
dagegen wie eine Wohltat – es war ein Geruch wie von verkohlten
Haaren und dem ekelhaft süßlichen Mief verbrannten Fleisches,
vermischt mit etwas, das sie nicht kannte und das ihren Magen
zum Rebellieren brachte. Sie hörte Laura neben sich schluchzen,
streckte blind die Arme aus und bekam sie zu fassen. Erleichtert
klammerten sie sich aneinander, und Azrani fragte sich verzweifelt, wo dies enden mochte.
Die blecherne Stimme des unsäglichen Wesens schepperte über
sie hinweg, dass es ihnen fast die Trommelfelle zerriss: »Morgen!
Der heilige Mandalor verlangt bis morgen!«
Schon breitete der Abon’Dhal seine Schwingen aus, drehte sich
um, vollführte einen kurzen Anlauf und schwang sich in die Lüfte.
Azrani hielt die Augen geschlossen und umfasste Lauras Arm.
Das Entsetzen in ihrem Herzen wollte nicht weichen. Die Kralle
des Phryx hielt ihre Schulter umklammert; auf ihrem Sitzplatz
hing sie halb in der Luft, während der Abon’Dhal flog, wie es ihm
gefiel. Das Wohlergehen seiner Passagiere schien ihn nicht im
Geringsten zu kümmern. Nach einer Weile wagte Azrani einen
Blick durch ihre Tränen hindurch. Sie waren hoch in der Luft;
Okaryn näherte sich rasch, und nun wurde ihr klar, welch grausiger Ort das eigentlich war. Die Festung auf der Oberseite wirkte
monströs und kalt, der Felsen war gigantisch groß, er besaß sicher die vier- oder fünffachen Ausmaße von Xahoor. Schmerzlich
kalt war auch die Klaue des Phryx und sogar der Rücken des
Abon’Dhal. Noch nie hatte sie einen Drachen als so vollkommen
kalt erlebt, nicht einmal Meados. Sie spürte, wie eine verzweifelte, ohnmächtige Wut in ihr aufstieg, die bald in Hass umschlug.
Marina hatte ihr von ihren Gefühlen erzählt, damals, als Meados
ihr und Ullrik verboten hatte, die Pyramide zu betreten, um nach
ihr, Azrani, zu suchen. Er hatte ihr gewissermaßen befohlen, ihre
beste Freundin zurückzulassen und als tot zu betrachten, aus irgendwelchen Gründen, die nur er kannte. Damals hatte Marina
auch einen solchen Hass verspürt; sie hätte sich, wenn es ihr nur
möglich gewesen wäre, am liebsten auf Meados gestürzt und ihm
wehgetan, so sehr sie nur irgend konnte. Nun glaubte Azrani,
dieses Gefühl nachvollziehen zu können. Diese Abon’Dhal würden
über Tausende, ja Millionen von Leichen gehen, ohne sie überhaupt wahrzunehmen. Azrani stutzte. Das habe ich schon einmal
gesehen!, schoss es ihr durch den Kopf. Bei dem Gedanken an die
Millionen von Leichen war ihr die schreckliche Unterwasserkaverne auf der Dreieckswelt wieder eingefallen, dieser gigantische
Friedhof, wo sich die unzähliger Knochen kleiner Lebewesen gehäuft hatten.
Lebewesen, die vor langer Zeit einmal auf ähnliche Weise umgekommen sein mochten wie all die
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