Höllen-Mädchen
gab, als König Trents mundanische Armee sich friedlich in Xanth niederließ.
So hatte ich das Glück, im friedlichsten Abschnitt von Xanths Dunklem Zeitalter zu leben. Eigentlich war es sogar ziemlich langweilig. So gab es einen Segensspruch: ›Mögest du in langweiligen Zeiten leben.‹ Ich für meinen Teil hätte lieber unter dem Fluch interessanter Zeiten gelitten.
Ich war das jüngste von drei Kindern. Mein älterer Bruder erbte den Hof, und meine ältere Schwester hatte einen unverbesserlichen Befehlston am Leib. Deshalb war es mir beschieden, auf der Suche nach fernen Abenteuern allein durch die Welt zu ziehen. Unglücklicherweise bestand das einzige Handwerk, das ich beherrschte, aus dem, was ich zu Hause erlernt hatte: dem Anbau von Ticks. Wir bauten Ticks an, die regelmäßig zuckten. Wir ernteten und bündelten sie für die Uhren anderer Leute. Waren sie erst einmal in eine Uhr eingebaut, so maßen die gut ausgereiften Ticks die Zeit. Ohne sie hätten die Uhren nichts weiter als Tacks besessen und wären reichlich nutzlos gewesen. Doch die Ticks sorgten für eine stetige Abfolge von Tick-Tacks, so daß die Uhren richtig gingen. In Xanth gab es nur wenige Uhren, denn es lebten dort nur wenige Menschen, und meine Familie versorgte sie mit allen Ticks, die gebraucht wurden. Es wäre sinnlos gewesen, eine zweite Farm dieser Art aufzubauen. Was ich gelernt hatte, war außerhalb des Reiches nutzlos.
Doch ich hatte eine andere Leidenschaft: eine geradezu ungezügelte Neugierde. Das war aber auch schon alles, denn ich besaß meines Wissens kein magisches Talent. In jenen Tagen war das auch noch nicht erforderlich. Erst der ältere Sturmkönig verfaßte diesen idiotischen Erlaß, daß jeder Bürger von Xanth ein magisches Talent besitzen mußte, wie gering es auch sein mochte. Vorher bestand das einzige wirkliche Gesetz darin, daß nur ein Zauberer König werden konnte. Es geht zurück auf die vierte Einwanderungswelle und hat im allgemeinen gut funktioniert, denn nur ein Zauberer besaß die Macht, seine Erlasse durchzusetzen. So wurde ich, ein untalentierter junger Mann, ohne sonderliche körperliche Fähigkeiten und von kleinem, nicht besonders stattlichem Wuchs, in Xanth zur Unperson. Die anderen Leute bekamen weder mit, was ich tat, noch kümmerten sie sich darum, solange ich niemanden störte.
So wanderte ich von Dorf zu Dorf, sah mich um und erkundete alles. Begierig nahm ich alles in mich auf, was es zu erlernen gab. Da die Dörfer weit auseinander lagen, verbrachte ich die meiste Zeit auf den Wegen zwischen den Ansiedlungen. Diese Wege waren verwahrlost und nicht selten gefährlich – zumindest galt das zwischen den Perioden, in denen es magische Wege gab, die ursprünglich von König Roogna angelegt wurden. Man mußte sehr aufpassen, die verwahrlosten Wege nicht mit jenen zu verwechseln, die von Gewirrbäumen und ihresgleichen für ihre speziellen Zwecke errichtet wurden. Während des Goldenen Zeitalters gab es magische Wege im Überfluß, und das gilt auch für unsere jetzige Epoche. Das ist eben der Vorteil eines mächtigen Königs.
Ich war fünfzehn Jahre alt, sah aber aus wie zwölf. Manchmal hielten mich die Menschen für einen Zwerg. Da das immer so gewesen war, hatte ich mich daran gewöhnt. Ehrlich gesagt, war es manchmal sogar ein Vorteil, weil Zwerge für gewöhnlich nicht als Menschen betrachtetet wurden. Aus diesem Grund äußerten sich in meiner Gegenwart manche so freizügig, als seien sie allein oder höchstens in Begleitung von Tieren. Also spitzte ich die Ohren, hielt den Mund und erfuhr viele Geheimnisse. Doch diese waren es nur in den seltensten Fällen wert, erfahren zu werden: Wer sich mit wessen Frau ein Stelldichein gegeben hatte, wer was von wem stahl, und wer vor kurzem vom ortsansässigen Drachen gefressen worden war. Aber es war mein unersättliches Verlangen, das mich dazu trieb, mir ihre Namen, Gesichter und Geheimnisse einzuprägen, denn alles, was man wissen konnte, wollte ich auch in Erfahrung bringen.
Wie sich herausstellte, besaß ich ein hervorragendes Gedächtnis, das ich durch Notizen unterstützte, die ich in meinem einzigen Besitztum von Wert niederlegte: einem Notizbuch. So schrieb ich beispielsweise ›Kelvin – schlachtete den goldenen Drachen‹ oder ›Stile – blauer Adept‹ oder ›Zane – Thanatos‹ oder ›Darius – Cyng von Hlahtar‹, und beim Lesen einer jeden Notiz tauchte dann die gesamte, ganz persönliche Geschichte des Betreffenden in
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