Höllen-Mädchen
Verdrossen setzte sie der Tochter einen schäbigen Hut auf. Schließlich nahm sie eine Handvoll Erde und beschmierte Roses rosarote Wangen.
Rose schaute in den Spiegel. Mittlerweile sah sie fast schon gewöhnlich aus, solange man das Werk nicht aus allzu großer Nähe betrachtete. Mit ein wenig Glück müßte die Vermummung ausreichen. Wenn sie jetzt noch ihren Rücken krümmte, erhöhte sich gewiß der Nutzen der Verschleierung.
Sie blickten aus dem Fenster. Ein Soldat beobachtete das Haus. Offenbar war der König auf der Hut, weil er mit einem Fluchtversuch rechnete. Das sähe seinem heimtückischen Wesen ähnlich.
»Dein Vater, gesegnet seien seine Knochen, hat das vorausgesehen«, bemerkte Gräfin Ashley. »In einer Stunde werden einige Männer eintreffen, die den Sarg abholen wollen. Nimm all deinen Mut zusammen.«
»Wieso Mut?«
Ihre Mutter führte sie zur Kammer, in welcher der Sarg aufgebahrt stand. Graf Bliss lag in vollem Staat zum letzten Abschied im Sarg. Er sah beinahe so aus, als schliefe er. Dennoch zeichneten sich die Spuren des Gifts deutlich ab. Über allem schwebte der Hauch des Todes. Rose spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Während der Schrecknisse der vergangenen Stunden hatte sie ihren toten Vater völlig vergessen, jetzt aber stürzte die Gewißheit, daß der Mensch, der sie mehr als jeder andere geliebt hatte, nie mehr für sie da sein würde, mit unverminderter Wucht über sie herein. Das Unglück hatte seinen Lauf genommen, weil ihr gutherziger Vater berechtigterweise über den schrecklichen König genörgelt hatte, und weil dieses Nörgeln das widerwärtige königliche Ohr erreicht und in den bösen königlichen Geist eingedrungen war.
Rose blickte auf die Uhr, die selbstverständlich nicht mehr lief. Die Welt erschien ihr auf furchterregende Weise zeitlos.
Gräfin Ashley betastete das Unterteil des Sarges. Ein Fach glitt zur Seite. Neben dem eigentlichen Sarg befand sich eine schmale Kammer.
»Dort hinein?« fragte Rose entgeistert.
»Es ist der einzige Platz, den sie nicht durchsuchen werden«, beharrte ihre Mutter grimmig.
Rose mußte fraglos zustimmen. Sie riß sich zusammen und zwängte sich in die Kammer. Dann verschloß Gräfin Ashley das Fach. Die einzige Annehmlichkeit war ein kleines Kissen für ihren Kopf und ein schwacher Lichtschein, der durch die Ritzen drang.
Verzweifle nicht, meine Tochter.
Rose wäre aufgesprungen, wenn sie Platz gehabt hätte. Es war keine Stimme, die gesprochen hatte, sondern eher ein Gedanke, der von der Leiche, die direkt über ihr lag, langsam zu ihr heruntersickerte.
Es war eine gräßliche Angelegenheit, und doch besaß der Gedanke eine beruhigende Wirkung. Sogar im Tode kümmerte sich ihr Vater um ihr Wohl. Er tat sein Möglichstes, damit sie dem König entwischen konnte. Diese Erkenntnis erfüllte Rose wieder mit Kraft und Zuversicht.
Sie mußte geschlafen haben, denn plötzlich weckte sie ein Schaukeln, als der Sarg hochgehoben und weggetragen wurde. Ihre Mutter hatte die Träger wohl dafür bestellt, für jede Ecke einen, und zwei zusätzlich für die Seiten. Die Männer waren stark genug, daß ihnen das zusätzliche Gewicht nicht weiter auffiel. Oder sie waren so loyal, daß sie auch dann schwiegen, wenn sie etwas bemerken sollten.
Rose hörte den schweren Atem der Männer, als sie die Bürde trugen, und die Stimme von Gräfin Ashley, die Anweisungen gab. Der Sarg schwankte aus dem Haus ins Dorf hinein. Sie kamen an einem Soldaten vorbei, der herzlos lachte.
»Was sehen meine Augen! Ihre schönreizende Tochter wird dem Totenbegräbnis nicht beiwohnen? Vielleicht sollte ich ins Haus gehen und der Einsamen Gesellschaft leisten? Ha, ha, ha!«
»Wie Sie möchten«, erwiderte Gräfin Ashley unbeeindruckt. »Und morgen früh, wenn der König davon erfährt…«
Dem Soldaten blieb das Lachen so plötzlich im Halse stecken, als hätte ein Schwert seine Kehle durchtrennt. Das wäre immer noch ein weitaus gütigeres Schicksal, als die Bestrafung, die der König für einen Menschen ersann, der seine Vergnügungen durchkreuzte. Aus Angst, verdächtigt zu werden, hätte es schon niemand gewagt, in die Nähe des Hauses zu gehen, um sich von Roses Anwesenheit zu überzeugen. Selbst das Mißtrauen des Königs brachte den Tod.
Es gibt einen verzauberten Einwegpfad von hier nach Schloß Roogna, empfahlen ihr die Gedanken des Vaters. Folge ihm ohne Furcht, auch wenn dir unterwegs Ungeheuer begegnen. Sie werden dir kein Leid
Weitere Kostenlose Bücher