Höllen-Mädchen
Böses über den Baum und den Drachen gedacht hatte.
Schnellen Schrittes verließ sie den Ort des Geschehens. Sie war froh, daß der Schutzzauber für den Pfad so gut funktionierte. Inzwischen war vollständige Dunkelheit in den Wald eingebrochen, aber das Schimmern auf dem Pfad hellte sich auf, so daß sie sehen konnte, wo sie den Fuß aufsetzen mußte.
Nach etwa anderthalb kleinen Ewigkeiten – ihre Beine fühlten sich mittlerweile schwer wie Blei an –, traf sie auf ein anderes Hindernis. Die Bäume wuchsen hier höher und dichter am Wegesrand, so daß die ausscherenden Zweige ihr Weiterkommen behinderten. Sie müßte sich um diese Äste herumschlängeln, drunter her und drüber weg. Das sähe zwar nicht damenhaft aus, aber vielleicht schaute gerade niemand zu.
Als sie an dem ersten Ast vorbei wollte, bewegte er sich. Überrascht blieb sie stehen, ohne zurückzuweichen. Wie konnte ein Baum seine Äste eigenständig bewegen?
Dann erinnerte sie sich. In der Nähe von Schloß Roogna befand sich ein Apfelgarten, dessen äußere Baumreihen Wache hielten. Sie mußte ihrem Ziel nahe sein!
Sie faßte sich und sprach: »Ich bin Rose, Enkelin von…«
Die Äste gerieten in Bewegung, hoben sich und wirbelten wie das wirre Haar einer Gorgone. Schließlich bildete sich ein Durchlaß, indem die Äste nach rechts und links gescheitelt den Weg freigaben. Es schien ihr, als hätten die Bäume sie erwartet. Vielleicht wußten sie, daß nur Rose diesen Weg käme.
Sie war heilfroh, kurz vor ihrem Ziel zu sein, denn Rose war am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte sich mit Erde beschmiert, um häßlich auszusehen. Nun fühlte sie sich wie ihr Äußeres. Schweren Trittes setzte sie ihren Weg fort. In besseren Zeiten wäre sie niemals gewandert, weil sich das für eine Jungfrau nicht schickte. Jetzt fühlte sie sich mehr wie ein Vagabund als wie ein Mädchen.
Der Pfad schlängelte sich durch die Obstwiese und die wuchtigen, verknorpelten Wächterbäume wurden von allerlei Arten Obstbäumen abgelöst. Die Dunkelheit war kaum noch zu durchdringen. Undeutlich erkannte sie einen Schuh, der fast über dem Pfad hing. Dort mußte ein Schuhbaum stehen. Dann erspähte sie einen ausgesprochen kunstvollen Ast, der sich über den Weg bog und der höchstwahrscheinlich zu einem Artistenbaum gehörte. Sie mußte kurz vor ihrer Zufluchtsstätte sein.
Endlich schob sich Schloß Roogna in ihr Gesichtsfeld. Das imposante Steingemäuer hob sich zauberhaft gegen den Sternenhimmel ab. Hoch ragte es auf, so daß sie sich fragte, ob nicht irgendwelche Sterne von den Turmspitzen gekitzelt wurden. Ein düsterer Wassergraben umgab das Schloß. Der Pfad aber führte über eine heruntergelassene Zugbrücke.
Sie befürchtete, vor Erschöpfung zusammenzubrechen und im Staub liegenzubleiben, wenn sie stehenblieb, und das schickte sich wahrhaftig nicht für eine jungfräuliche Prinzessin.
Die Holzplanken der Zugbrücke vibrierten leicht unter ihren festen Schritten. Als sie die Eingangspforte erreichte, fand sie diese geöffnet vor. Es erstaunte sie, daß der letzte Besuch das Schloßtor offengelassen hatte! Als sie eintrat, hörte sie hinter sich ein Quietschen und sah, daß die Zugbrücke sich von selbst hochzog. Daraufhin schloß sich die Pforte. Sie war gefangen. Die Festung öffnete und schloß sich nach eigenem Willen!
»Ich danke dir, Schloß Roogna.« Nachdem sie endlich in Sicherheit war, verlor sie die Besinnung. Daß diese Ohnmacht nicht den strengen Maßstäben jungfräulichen Benehmens entsprach, konnte glücklicherweise von niemandem beobachtet werden.
Ein Sonnenstrahl weckte sie. Sie lag in einem Bett! Es war mit wundervoll sauberen Laken bezogen und hatte angenehm weiche Kissen.
»Und ich bin ein Dreckspatz!« rief sie aus, weil sie glaubte, das Bettzeug beschmutzt zu haben.
Etwas flatterte in ihre Nähe. »Neiiin«, ertönte es klagend.
»Iiiih!« kreischte Rose in ausnehmend jungfräulicher Art. »Ein Gespenst!«
Das Gespenst, das sich bei ihrem Aufschrei erschrocken hatte, verschwand augenblicklich. Rose schämte sich, daß sie unhöflich gewesen war. »Gespenst, es tut mir leid. Ich wollte dich nicht anschreien«, versuchte Rose zu beschwichtigen. Es gehörte sich für eine Prinzessin nicht, jemanden grob zu behandeln, nicht einmal ein Gespenst.
Die Erscheinung tauchte wieder auf. Beinahe durchsichtig und von fließender Gestalt schwebte sie dicht über dem Boden. Dann verdichtete sie sich und nahm einigermaßen menschliche Züge
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