Höllen-Mädchen
zufügen. Wirst du aufgefordert, dich zu erklären, so gib bereitwillig deinen Namen und den Zweck deines Anliegens preis. Die Erlaubnis zu passieren wird dir dann augenblicklich erteilt. Kehre nicht um, denn in diesem Moment bräche der Schutzzauber zusammen, und du wärst im wahrsten Sinne des Wortes auf ewig verloren.
»Ich danke dir, mein lieber Vater«, setzte Rose in Gedanken hinzu. Zuerst hatte sie angenommen, ihr Vater würde ihr aus dem Totenreich heraushelfen, dann aber ging ihr auf, daß er schon zu Lebzeiten diese Arrangements getroffen hatte, um sie retten zu können. Die Liebe, die sie ihm gegeben hatte, wurde erwidert, und der Tod stellte sonderbarerweise das Rettungsgefährt bereit, anstatt wie gewöhnlich als grausame Trennwand zu wirken. Trotzdem wünschte sie sich, daß es eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Warum hatte sie nur die Tücke des tödlichen Briefs nicht rechtzeitig erkannt? Sie hätte ihn an sich gebracht und ihn ungeöffnet vergraben.
Ich danke dir, geliebte Tochter.
Der Troß erreichte die Begräbnisstätte. »Die Spaten!« forderte Gräfin Ashley in verstimmtem Tonfall. »Hat etwa keiner an die Spaten gedacht?«
»Entschuldigung. Wir werden sie unverzüglich holen«, gab einer der Männer zur Antwort. Seiner Stimme war nicht die kleinste Überraschung anzumerken, daß derartig wichtige Utensilien vergessen worden waren, und es bedurfte auch nicht aller sechs Männer, um die Spaten zu holen.
Der Geheimverschlag öffnete sich. »Schnell, bevor die Sargträger zurückkommen«, drängte Gräfin Ashley.
Rose zwängte sich heraus. Lebe wohl, mein Liebling. Auf diese Weise vergelte ich ein wenig deine Fürsorge, die du so großzügig an mich verschwendet hast. Ich weiß schon seit langem, daß dich eine große Liebe in die Arme nehmen wird.
»Geh in Frieden, geliebter Vater«, flüsterte Rose mit einer Träne im Auge.
Gräfin Ashley drückte sie herzlich an sich. »Ich muß bleiben und mich um die Begräbniszeremonie kümmern. Du aber…«
»Ich weiß, Mutter.«
Welches Schicksal harrte dieser wunderbaren Frau, die, von Gatte und Kind verlassen, ihr restliches Leben allein verbringen sollte? Aus Roses anderem Auge rollte eine weitere Träne die Wange hinunter.
»Nimm diesen Pfad, der um das Dorf herumführt. Solltest du auf einen unbekannten Weg treffen, der leicht schimmert, dann folge ihm ohne Zögern. Geh jetzt bitte, ehe die Männer zurückkehren.«
»Lebe wohl, geliebte Mutter.« Rose löste sich von Lady Ashley und betrat den Pfad, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.
Schon kam ein Sargträger mit einem Spaten auf der Schulter um die Ecke gebogen. Rose erkannte ihn und hoffte, ihrerseits in der Maske aus Schmutz und abgetragenen Kleidern unerkannt zu bleiben. Sie krümmte ihre Schultern und ahmte anstelle ihres natürlichen schwebenden Gangs das schwerfällige Stapfen eines Jungen nach. Es gelang offensichtlich, denn er würdigte sie keines weiteren Blickes.
Ein wenig später bemerkte sie ein Schimmern auf dem Boden. Fast wäre sie daran vorbeigegangen, so flüchtig war der Glanz. Sie trat unverzüglich auf den Zauberpfad, der rasch vom Dorf fortführte.
Die Baumkronen eines Waldes bildeten ein Dach über ihr, und von einem Augenblick zum anderen wechselte das Halbdunkel des Tages übergangslos in ein Zwielicht, das ihr irgendwie dicht und düster vorkam. Der vor ihr liegende Pfad schimmerte nur noch unmerklich und wand sich geheimnisvoll durch das Dickicht. Rose folgte ihm fliegenden Fußes, weil die Angst, verfolgt zu werden, ihren Schritt beflügelte. Hinter ihr erklangen jedoch keine Geräusche. Schließlich ging sie langsamer und blickte zurück. Sie sah weiter nichts als Bäume, Kletterpflanzen und Laub.
Beinahe wäre sie stehengeblieben, erinnerte sich aber rechtzeitig an die Warnung. Auf diesem Pfad gab es nur eine Richtung. Ging sie auch nur einen einzigen Schritt zurück, verschwände der Pfad unwiederbringlich, und sie wäre ohne Aussicht auf Rettung in der Wildnis verloren.
Sie begnügte sich mit einem flüchtigen Blick zurück, ohne beim Gehen anzuhalten. Merkwürdig, aber hinter ihr war kein Pfad mehr auszumachen. Sie schaute auf ihre Füße herunter und bemerkte, daß der Pfad verschwand, gleich nachdem ihr Fuß zum nächsten Schritt ansetzte.
Wie hatten ihre Eltern diesen Einwegpfad erwerben können? Es mußte sie ein Vermögen gekostet haben. Kein einziges Wort hatten sie ihr davon erzählt. Erst in dem Augenblick, da Gefahr im Verzuge
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