Hoellenfeuer
ist es schon.“
Er wies mit dem Kinn auf einen Punkt weit vor sich und Eleanor folgte seinem Blick. Dort, vielleicht zweitausend Meter vor ihnen lag auf einem schmalen Bergsattel ein Lama-Kloster. Es war von einer Wolkenbank umgeben, so dass es wie auf Wolken zu fliegen schien, während die riesigen Berge gleich Wächtern um diesen Ort herumstanden und ihre Köpfe viele tausend Meter hoch in den Himmel reckten. Dies musste der wohl einsamste Ort sein, den Eleanor jemals gesehen hatte. Es gab nur Stein und Eis. Nirgendwo sah man Pflanzen, Tiere oder gar andere menschliche Behausungen.
Die Gebäude des Klosters flogen auf sie zu und schließlich landete Raphael in einem kleinen Hof zwischen den Gebäuden. Er setzte Eleanor sanft ab und sah sich prüfend um.
„Das Kloster wurde vor etwa siebzig Jahren aufgegeben “, sagte er. „Aber es bietet einige Vorteile für uns. Es liegt weit genug von den nächsten menschlichen Siedlungen entfernt, so dass Menschen keinen Schaden durch Samael davontragen müssten, wenn er hier auftauchte. Außerdem ist nicht damit zu rechnen, dass Menschen hier vorbeikommen. Wenn sich dir jemand anderes nähert als ich oder einer unserer Verbündeten, dann wirst du sofort wissen, dass es sich nur um Samael handeln kann. Er wird sich nicht verstellen können.“
Mit diesen Worten ging er zielstrebig auf eines der Gebäude zu und öffnete die Tür. Eleanor folgte ihm in eine kleine Halle, die den Mönchen als Gebetsraum oder Speisesaal gedient haben mochte. Die Halle war vollkommen leer, ebenso wie die angrenzenden Räume. Dieser Ort wirkte kalt und leer. Tot und abweisend, es roch muffig und staubig. Die Gebäude selbst waren noch in gutem Zustand, bislang hatte nirgendwo der unvermeidliche Verfall eingesetzt. Doch von diesem Kloster ging ein Gefühl der Einsamkeit und Leere aus. Unwillkürlich musste Eleanor an die Gefühle denken, die sie gespürt hatte, als sie Raphael in seinem Toten Palast besucht hatte. Dieser Ort aber stand in der realen Welt. Er war nicht geträumt, es gab ihn wirklich. Eleanor schauderte.
Raphael wandte sich zu ihr um. „Du musst keine Angst haben “, sagte er mit rauer Stimme. „An kaum einem Ort auf dieser Welt dürftest du sicherer sein. Zumindest für eine kurze Zeit…“
Dann trat er auf einen kleinen Ofen zu und berührte ihn beiläufig. Beinahe sofort begann der Ofen eine wohlige Wärme auszustrahlen, die den Raum erfüllte und ihm seine unfreundliche Atmosphäre nahm.
Raphael blickte Eleanor an. „Ich werde bald wieder hier sein. Du wirst Essen und warme Decken benötigen. Hab keine Furcht, während ich unterwegs bin.“
Eleanor zuckte zusammen. „Lass mich hier nicht allein “, wimmerte sie. „Ich habe Angst, wenn ich ohne dich bin.“
Raphael trat zu ihr und nahm sie in die Arme. Ein Gefühl von Stärke und Zuversicht durchströmte Eleanor und sie atmete unwillkürlich auf.
„Ich werde in weniger als einer Stunde wieder hier sein“, versprach Raphael. „Bis dahin wird dir nichts geschehen. Ich verspreche es!“
Sie sah zu ihm empor und nickte tapfer. Raphael streichelte ihr zärtlich über die Wange, und blickte ihr tief in die Augen. Eleanor wusste genau, wären sie beide Menschen gewesen, dann würden sie sich jetzt küssen. Doch sie wagte es nicht.
„Du hast gesagt, du liebst mich!“, formten ihre Lippen verzweifelt, ohne den Satz auszusprechen. Raphael nickte. „Das tue ich“, antwortete er mit strahlenden Augen. Dann legten sich seine Lippen auf ihre.
Raphaels Kuss tauchte Eleanors Welt in ein Meer aus Licht und Euphorie. Es war wie damals, als er mit ihr auf dem Kirchturm von Stratton gestanden hatte – die Welt schien für einen Augenblick still zu stehen und sich dennoch nur um dieses kleine Kloster in den Bergen des Himalayas zu drehen. Um den kleinen Raum, in dem sie standen. Und dennoch war es anders, intensiver und realer. Für einen Moment glaubte Eleanor, die ganze Schöpfung in ihren Händen zu halten und außerhalb von Leben und Tod zu stehen. Dies war ihr erster Kuss und sie bekam ihn von einem Engel.
Nur widerstrebend ließ sie zu, dass Raphaels Lippen sich schließlich von den ihren trennten.
„Ich lasse dich nicht allein!“, sagte er noch einmal. Dann wandte er sich um und trat an eine der Brüstungen des Hofes. Er breitete seine Flügel aus, schwang sich in die Luft und verließ den Berg. Eleanor vernahm noch eine kurze Weile das gleichmäßige Schlagen seiner mächtigen Flügel. Dann hörte sie nur noch
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