Hoellenflirt
vergessen habe. Plötzlich fällt mir das Foto ein, das neulich zwischen Schwert und Wand eingeklemmt gewesen war und das Valle mir sofort weggenommen hat. Ob es noch hier ist?
Ich renne zurück ins Schlafzimmer, wo mich wieder der elende Ziegenbockkopf angrinst. Keine Sekunde länger kann ich das ertragen, ich springe aufs Bett und reiße mit aller Kraft den Wandbehang herunter. Der Stoff ist viel schwerer, als ich erwartet habe, fällt raschelnd auf mich und wirft mich glatt um. Dieses elende Zeug! Ich strample das verfluchte Ding von mir und hoffe, dass es dabei kaputtgeht.
Mitten im Strampeln meldet sich mein Kopf, sagt, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Ich bleibe ganz still liegen, voller Angst, ich könnte bei dem Lärm überhört haben, dass jemand gekommen ist. Aber in der Wohnung bleibt alles ruhig.
Ich schiebe den letzten Rest Stoff beiseite. Es raschelt wieder.
Und da dämmert es mir. Ein Wandbehang aus Stoff raschelt nicht. Papier raschelt!
Ich springe auf, rase in die Küche und suche eine Schere. So bewaffnet mache ich mich daran, den Saum aufzuschneiden.
Und tatsächlich – zwischen der Wattierung und dem Außenstoff sind zwei braune DIN-A4-Umschläge eingenäht. Das muss es sein, was Thor und Giltine gesucht haben! Ich schneide den Wandbehang noch weiter auf, aber es gibt nur diese beiden Umschläge.
Am liebsten würde ich sofort nachschauen, was drinsteckt, aber dafür habe ich jetzt keine Zeit.
Ich schiebe mir die Umschläge zwischen Jacke und T-Shirt und mache, dass ich aus der Wohnung komme. Diesmal warte ich nicht erst auf den Aufzug, sondern renne die fünf Stockwerke nach unten, zur U-Bahn und dann nach Hause.
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»In dieser Nacht wurde mir wieder klar, wie wichtig es ist, immer einen klaren Kopf zu behalten. Beinahe hätten sie vergessen, ihre Gummihandschuhe anzuziehen, obwohl ich sogar schwarze besorgt hatte. Immerhin schafften sie es, L.s Körper unter Anrufung aller Dämonen des Schreckens mit dem Saft unserer Rache zu salben. Es war ein Hochgenuss, dabei zuzusehen und zu wissen, was kommen würde.«
A ls ich völlig außer Atem die Haustür aufschließe, erwarte ich eigentlich, dass Schwallfi oder Mama sich auf mich stürzen und zur Rede stellen. Aber es ist niemand da.
Ich gehe in die Küche und ziehe die Briefumschläge hervor.
Mir graut davor, sie zu öffnen. Wer weiß, was ich darin finde? Trotzdem greife ich mir ein Messer aus der Küchenschublade, gebe mir dann einen Ruck und schlitze die Umschläge auf. Ratsch. Zuerst nehme ich mir den dünneren vor.
Ein Foto fällt mir entgegen, und zwar das gleiche, das ich in Valles Schlafzimmer entdeckt hatte. Ich drehe es um.
Leon 9.1.1987–31.12.2004.
Sonst nichts. Mir läuft eine Gänsehaut über den Rücken. Leon – wer auch immer das war – ist nur siebzehn Jahre alt geworden.
Ich schneide den dickeren Umschlag auf und ziehe vorsichtig einen Packen liniertes Papier heraus. Die Seiten sehen aus, als ob sie aus einem Deutschheft herausgerissen worden wären. Die Blätter sind zerknittert, wirken, als hätte man sie in einer Hosentasche herumgetragen. Ich löse die Büroklammern, mit der sie zusammengeheftet sind, und beginne, sie der Reihe nach zu lesen. Auf den ersten Blick sehen die Texte aus wie Deutsch-Hausaufgaben, doch dann merke ich, dass es Briefe sind.
Der erste beginnt mit »Ich bin fliegen«, dann kommt »Ich bin schwingen«, »Ich bin taumeln«, »Ich bin straucheln« und es endet mit dem letzten Brief:
Ich bin sterben
Danke für all deine Anrufe. Es hat gutgetan, deine Stimme zu hören, auch wenn ich dir nicht antworten konnte. Außer heiserem Bellen kommt nichts mehr aus meiner Kehle. Ich erinnere mich nicht daran, was passiert ist, nur, dass ich gestürzt bin. Man hat mich draußen in der Nähe der Burgruine gefunden. Hatte wohl eine Gehirnerschütterung und überall Schürfwunden. Aber ich war noch so weit bei Verstand, dass ich den letzten Text an dich rausschmuggeln konnte. Hast du ihn bekommen? War der Schlüssel drin? Du hast am Telefon nichts darüber gesagt. Also jedenfalls, kaum dass mit meinem Kopf alles wieder okay war, begann das merkwürdige Jucken, dann kamen die Pusteln, überall dort, wo ich mich aufgeschürft hatte, und das Licht fing an, unerträglich für mich zu werden.
Das wird nun jeden Tag schlimmer und ich sabbere und schäume wie ein zahnloser Greis. Manchmal sind meine Glieder wie gelähmt, dann wieder bäumen sie sich so merkwürdig auf. Für diesen Text habe ich
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