Höllenherz / Roman
Tageslicht verblassten. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, wie der alte Alpha sich umgedreht, die anderen an sich vorbeigescheucht und sich zwischen die Dämonen und das Rudel gestellt hatte.
Der alte Alpha. Sein Vater.
Das war das Ende des Traums, doch Lor hatte den Tod seines Vaters heute nicht schon wieder mit ansehen müssen. Er war rechtzeitig aufgewacht. Ausnahmsweise.
Lor war als Letzter durch den Mauerspalt gegangen. Hinter ihm waren noch andere gestorben.
Damals war er gerade achtzehn und so an jenem Tag auch zum neuen Alpha geworden.
Es ist lange her.
Er fühlte den Alpdruck noch wie ein Schaben an den Rändern seines Denkens. Der Traum wollte weitererzählen, ihm die ganze grausame Szene zeigen.
Nein. Denk nicht daran!
Lor atmete tief ein und zwang sich in die wache Welt zurück wie ein Schwimmer, der durch die Wellen bricht.
Wach auf!
Es gab eine neue Bedrohung für sein Rudel, und die Bürde der Verantwortung lastete nun auf seinen Schultern.
Steh auf! Beweg dich!
Stattdessen glitt er in einen anderen Traum. Da war Mavritte, eine der Höllenhündinnen, die ihn vorwurfsvoll ansah. »Gefalle ich dir nicht?«, fragte sie und hielt ein langes dünnes Messer in die Höhe, bereit, es ihm ins Herz zu rammen.
Lor erwachte jäh und mit klopfendem Herzen. Er blickte sich um, ließ den Traumschrecken abklingen, bis sich die Gegenstände in seiner Wohnung wieder vertraut und normal anfühlten.
Den Vormittag hatte er durchgeschlafen; es war eine lange Nacht gewesen. Da sein Bett anderweitig belegt war, hatte er seine Hundegestalt angenommen und auf dem weichen Lammfell vor dem Fernseher gelegen. Jetzt stellte er sich auf alle viere, schüttelte sich und tapste in die Zimmermitte.
Ein Blick durch die Balkontüren verriet ihm, dass draußen alles unter Schnee vergraben war. Es schneite immer noch, und die Flockenmasse bildete eine weiße Raupe auf der Balkonbrüstung. Auf den Straßen verschwanden die Autos allmählich unter den Schneewehen. Lor wollte kaum glauben, dass so viel Schnee gefallen war und es immer noch weiterging. Ganz Fairview schien verstummt: kein Verkehrsbrummen. Das war ein schlechtes Omen.
Er dachte an seinen Schneetraum und das mysteriöse Schreckliche, dem er sich stellen musste. Er dachte an die Hündin Mavritte und das Messer. Prophezeiung? Oder Angst, dass er, der Alpha, sich bald eine Gefährtin aus dem Rudel aussuchen musste? Der Wunsch, sich mit einer Partnerin zusammenzutun, begleitete ihn wie ein konstanter Durst, und dennoch gab es keine, die er wollte. Was einer diplomatischen Katastrophe gleichkam – noch dazu, wo er sich nicht einmal hinter Lügen verschanzen konnte.
Wenn ihn doch bloß eine der Hündinnen halb so sehr faszinierte wie die Vampirin in seinem Bett!
Aber wir wollen nie, was gut für uns ist.
Mit einem angewiderten Murmeln wandte Lor sich vom Fenster ab und lief in die Küche.
Mittels seiner Magie löste er seine Hundegestalt in einen dichten Nebel auf, aus dem er als Mann auftauchte. Das Gefühl ähnelte dem, wenn man fällt, wenn sich jede Zelle im Leib der subtilen Spannung unterwirft, mit der sie an den anderen Zellen haftet, einen furchterregenden Moment lang frei treibt und sich gleich darauf wieder mit den anderen zusammenfügt. Es klang wie ein tiefes Atemschöpfen.
Während der Kaffee durchlief, schüttete Lor Frühstücksflocken aus einer Schachtel und freute sich über das Geklimper, mit dem die Cap’n-Crunch-Nuggets in die Schale fielen. Die Gestalt zu wechseln, machte ihn hungrig.
Die Sache mit dem Weibchen verkörperte nur eines seiner Probleme. Außerdem gab es noch das Feuer, den Mord, die Wahl und den mysteriösen Vampir, den er letzte Nacht getroffen hatte.
Wo fange ich an?
Nachdem Lor seine Frühstücksflocken vertilgt hatte, sah er im Kühlschrank nach, was noch an Essbarem dort lagerte. Er war schon eine Weile nicht mehr einkaufen gewesen, daher gingen die Vorräte bedenklich zur Neige.
Wie will ich denn jemanden finden, der schwarze Magie, Brandstiftung und Mord betreibt, wenn ich nicht einmal daran denke, Lebensmittel einzukaufen?
Genervt zog er die Gemüseschublade auf und schloss sie rasch wieder.
Mögen die Propheten mir beistehen!
Er war ein Höllenhund, kein Biologe.
Was die Friedenswahrung in der Übernatürlichengemeinde von Fairview betraf, fungierten die Höllenhunde in erster Linie als Zuarbeiter des Sheriffs. Sie bewachten VIPs, griffen bei Kneipenschlägereien ein und setzten die Störenfriede fest, bis der
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