Höllenjagd
»Glauben Sie, er wird kooperieren, wenn ich einen Termin mit ihm vereinbare, um über das gestohlene Bargeld zu sprechen, das in seiner Bank aufgetaucht ist?«
»Das müssen Sie Horace fragen. Ich habe unsere Ermittlungen nicht erwähnt. Er scheint recht nett zu sein, wenn auch ein wenig herablassend.«
»Er hat den Ruf, arrogant zu sein«, sagte Bronson. »Doch wenn man ihn allein trifft, ist er recht entgegenkommend, und ich bin mir sicher, dass er bei Ihren Nachforschungen sehr kooperativ sein wird.«
»Wir werden sehen«, sagte Bell, der endlich sein Kalbsbries probieren konnte. Nachdem er geschluckt hatte, nickte er Irvine zu. »Ich denke, ich werde Sie zur Cromwell National Bank begleiten.«
»Sie wollen ihn noch einmal treffen?«, fragte Bronson.
Bell schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt, aber ich möchte mich gern in seiner Bank umsehen.«
»Was erhoffen Sie sich davon?«, wollte Curtis wissen.
Bell zuckte mit den Schultern, doch da war ein leichter Glanz in seinen Augen. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
19
Marion saß an ihrem Schreibtisch und tippte gerade einen Brief, als zwei Männer hereinkamen. Sie blickte von ihrer Underwood-Schreibmaschine Modell 5 auf. Der eine Besucher mit einer Mähne ungekämmten braunen Haars lächelte sie freundlich an. Er war dünn und hätte kränklich ausgesehen, wenn da nicht das gebräunte Gesicht gewesen wäre. Der andere war groß und blond. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, weil er sich abgewandt hatte, scheinbar, um die luxuriöse Ausstattung des Büros zu betrachten.
»Miss Morgan?«
»Ja, was kann ich für Sie tun ?«
»Mein Name ist Irvine.« Er reichte ihr seine Visitenkarte. »Mein Kollege Isaac Bell und ich sind von der Van Dorn Detective Agency. Wir haben eine Verabredung mit Mr. Cromwell.«
Sie erhob sich, ohne zu lächeln. »Natürlich. Ihre Verabredung ist um halb zehn. Sie sind fünf Minuten zu früh.«
Irvine breitete die Arme aus. »Sie kennen das Sprichwort...«
»Über den frühen Vogel, der den Wurm fängt?«, fragte sie amüsiert.
Der große blonde Mann blickte sie an. »Aber die zweite Maus bekommt den Käse.«
»Sehr scharfsinnig, Mr. Bell...«, sagte Marion - und verstummte.
Ihre Blicke trafen sich, und als Marion in die blauvioletten Augen schaute, spürte sie etwas, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Erst jetzt bemerkte sie, dass der Mann über einen Meter achtzig groß war und einen drahtigen Körper hatte, der in einem gut geschnittenen weißen Leinenanzug steckte. Der lange Schnurrbart hatte genau dieselbe Farbe wie sein gepflegtes Haar. Er war nicht attraktiv im Stil eines hübschen Jünglings, denn seine Züge waren markant und männlich, und er hatte etwas Raues an sich; ein Mann, der sowohl den unwirtlichen Westen kannte als auch mit den Annehmlichkeiten des Stadtlebens vertraut war. Sie blickte ihn unverblümt an, und ihre sonst stets beherrschten Gefühle waren in Aufruhr. Kein Mann hatte sie je so berührt, und schon gar nicht bei der ersten Begegnung.
Bell fühlte sich ebenfalls von Marions Schönheit und ihrer anmutigen Ausstrahlung betört. Der Boden unter ihm wankte, während er ihren Blick erwiderte. Sie wirkte zierlich und zugleich stark wie eine Weide. Sie strahlte gelassene Zuversicht aus, die vermuten ließ, dass sie jedes noch so schwierige Problem zu meistern in der Lage war. Sie war selbstsicher und graziös, hatte eine schmale Taille, und der Glockenrock musste sehr lange Beine verbergen. Das volle, glänzende Haar war hochgesteckt, und nur eine dünne Strähne fiel beinahe bis zur Taille hinab. Er schätzte, dass sie in seinem Alter war, vielleicht ein Jahr jünger oder älter.
»Ist Mr. Cromwell beschäftigt?«, fragte er, um wieder auf den Grund ihres Besuchs zurückzukommen.
»Ja...«, sagte sie mit leichtem Stammeln. »Aber er erwartet Sie.«
Sie klopfte an Cromwells Tür und ging ins Büro, um Bell und Irvine anzukündigen. Sie trat beiseite und gab ihnen zu verstehen, dass sie hineingehen sollten, während Cromwell hinter seinem Schreibtisch hervorkam, um sie zu begrüßen. Als sie durch die Tür gingen, streifte Bell absichtlich Marions Hand. Die Berührung durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag, dann schloss sie die Tür.
»Setzen Sie sich, meine Herren«, sagte Cromwell. »Horace Bronson hat mir gesagt, dass Sie mich wegen des gestohlenen Bargelds sprechen wollen, das in meiner Bank aufgetaucht ist.«
Irvine schien es nicht zu bemerken, doch Bell fand es erneut
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