Höllenknecht
stürmte weiter durch die Menschenmenge. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und schnappte nach Luft.
Wenige Meter vor ihr hatten sich etwa zwei Dutzend Leute zusammengerottet. Hafenarbeiter waren dabei, die dicke Knüppel in den Händen trugen. Einer hatte sogar eine eiserne Kette um das Handgelenk geschlungen und schwenkte sie drohend. Einige Beisassen trugen Werkzeuge bei sich, die auf dem Bau verwendet wurden, eine Frau in der Kleidung ärmlicher Handwerker trug ein Nudelholz.
Gustelies rang noch immer nach Atem. In ihren Ohren rauschte es. Wie durch einen Schleier hörte sie das Rufen der Menge. «Gebt den Kannibalen raus. Sonst schlagen wir kaputt das Haus.» Und: «Teufelsbrut, Teufelsbrut, sollst ersaufen in der Flut.»
«Das darf doch nicht wahr sein!», schimpfte Gustelies,stemmte die Hände in die Seiten und ging drohend auf die Menge zu.
«Was ist denn hier für ein Lärm?», schrie sie den Erstbesten an und baute sich direkt vor ihm auf. «Was soll das Geschrei? Wozu die Knüppel? Raus mit der Sprache, aber hastig.»
Der Auflader vom Hafen zog den Kopf ein. «Wir wollen den Menschenfresser.»
«Aha. Und woher wisst ihr, dass hier ein Menschenfresser ist?»
Der Auflader reckte sich. «Die ganze Stadt spricht von nichts anderem.»
«Soso. Die ganze Stadt also. Wisst Ihr noch, wie die ganze Stadt im letzten Jahr erzählt hatte, das Jüngste Gericht stünde bevor?»
Der Auflader nickte.
«Und zwei Jahre davor soll der Mond blutrot gewesen und das Blut direkt vor dem Römer hinabgeregnet sein. Wisst Ihr noch?»
Der Auflader lachte. «Alles Unfug. Die Weiber reden manchmal, wie es ihnen in den Kopf kommt.» Er schüttelte sich. «Was soll man da machen. Es fehlt ihnen eben an Verstand.»
«So. Den Weibern fehlt es an Verstand», wiederholte Gustelies.
Der Mann begriff, dass er etwas Falsches gesagt hatte, und schluckte. «Na ja, wie das manchmal eben so ist.»
«Aber Ihr, Ihr wisst genau, dass da drinnen einer sitzt, der Menschen frisst, ja? Habt ihr ihn dabei gesehen? Oder woher habt Ihr Eure Gewissheit? Doch bestimmt nicht von denen, die da am Brunnen schwatzen und weniger bei Verstand sind als die Männer, oder?»
Der Auflader wich einen Schritt vor Gustelies zurück. «Nichts für ungut, Frau», sagte er. «Kümmert Euch nicht um das, was hier vor sich geht. Wir werden schon alles richten. Geht Ihr nach Hause und kocht dem Euren etwas Gutes.»
Gustelies warf dem Mann einen Blick zu, der jeden anderen auf der Stelle umgestoßen hätte. So schnell gab sie nicht auf. «Was habt Ihr denn vor mit Eurem Menschenfresser, dem angeblichen?»
«Was schon?», tönte der Auflader und schwang seinen Knüppel.
«Ihr wollt ihn töten?»
«Vom Töten kann keine Rede sein. Das verbietet ja das Gesetz. Aber es kann schon sein, dass wir ihn auf frischer Tat ertappen und zum Handeln gezwungen sind. Wenn Ihr versteht, was ich meine.»
Und ob Gustelies verstand. Sie schüttelte fassungslos den Kopf, fasste ihren Weidenkorb fester und schritt entschlossen zum Eingang des Spitals. Die beiden breitschultrigen Pfleger, die mit dicken Knüppeln vor dem Portal standen, wichen zurück, als sie die Haushälterin des Pfarrers erkannten.
Kaum war sie drinnen, glaubte sie zu ersticken. Die Hitze der letzten Tage saß wie ein zäher Brei in dem Gemäuer. Sie betrat einen Gang, und ihr Blick fiel nach rechts in einen Krankensaal. Gustelies wusste nicht, ob sie sich die Ohren zuhalten sollte oder doch besser die Nase. Die Kranken lagen dicht an dicht. Einige hatten einen Strohsack unter sich und sogar Kissen, andere lagen auf einer dünnen Schicht Heu, wieder andere auf dem blanken Lehmboden. Wer keine eigenen Kleider mitgebracht hatte, trug nur ein kurzes Hemd, das knapp über das Gesäß reichte. Viele warenvon Flecken übersät, deren Herkunft Gustelies um keinen Preis wissen wollte. Neben der Tür lag ein Kranker, über dessen offenen Beinen die Fliegen summten. Eine junge Frau, hochschwanger, wiegte sich auf ihrer Heuschütte hin und her und sang dabei ein Kirchenlied. Ein Stück weiter im Saal wälzte sich ein Mann schreiend auf dem blanken Boden, sein Leib eine schwärende Wunde. Mit hängenden Schultern schlurften einige Gestalten zwischen den Liegenden entlang. Hier und da war ein Pfleger zu sehen, der einen Becher reichte oder eine Wunde betupfte. Gustelies wollte einen von ihnen nach Pater Nau fragen, aber ihre Worte gingen in dem infernalischen Lärm unter, der über allem lag. Wer nicht schrie,
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