Hoellennacht
Schwanz zuckte hin und her. Proserpina grinste. » Zeit, die Zeche zu zahlen, Nightie«, sagte sie.
Er beachtete sie nicht. Er hatte bereits die Seite markiert, die er lesen würde. Er schlug das Buch auf und las, die Augen auf die Seite geheftet, die lateinischen Worte langsam und sorgfältig vor. Der Wind wurde jetzt stärker, und er hielt das Buch fest gepackt, damit es ihm nicht aus den Händen gerissen wurde.
» Du verschwendest deinen Atem«, sagte Proserpina. Sie trat einen Schritt auf das Pentagramm zu. » Es ist Mitternacht. Jetzt nehme ich mir, was mir gehört.«
75
Mitchell nahm die Sauerstoffmaske vom Gesicht. » Was tut er da?«, krächzte er. » Kein Zauber kann sie aufhalten– dafür ist sie zu stark.«
» Wie geht es weiter, Sir?«, fragte Sylvia.
» Sie wird sich seine Seele holen«, antwortete Mitchell. » Nightingale hat Mut, das muss man ihm lassen, aber er ist so gut wie tot.«
Er erhob sich aus dem Sessel, um besser auf die Terrasse zu sehen. Proserpina näherte sich Nightingale weiter. Sie sagte etwas zu ihm, aber Mitchell verstand es nicht. Ein heftiger Wind packte Nightingale, zerzauste sein Haar und ließ ihm den Mantel um die Beine flattern wie etwas Lebendiges. Proserpina dagegen blieb davon vollkommen unberührt.
Nightingale las mit gesenktem Kopf aus dem Buch vor. Er konzentrierte sich nur auf den Text und beachtete die Teufelin nicht, die nun nur noch wenige Schritte vom Pentagramm entfernt war.
» Er verschwendet seine Zeit«, brummte Mitchell. » Es ist vorbei.«
» Das Licht, Sir«, meinte Sylvia. » Nightingale hat gesagt, wir sollten das Licht anschalten.«
» Das wird ihm nichts helfen«, entgegnete er. Er legte die Sauerstoffmaske auf den Sessel. Proserpina stand jetzt unmittelbar vor dem Pentagramm. Ihre schwarzen Augen waren auf Nightingale geheftet, ihre Finger waren zu Klauen gekrümmt, und sie hatte sich vorgebeugt wie ein Raubtier vor dem Sprung.
Nightingale hörte auf zu lesen und klappte das Buch zu. Er hielt es Proserpina hin.
» Nein, niemals Kontakt zulassen!«, rief Mitchell.
» Das Licht, Sir«, sagte Sylvia.
» Na gut, okay«, fuhr Mitchell sie an. » Dann schalten Sie das Licht eben an, aber es wird ihm nichts helfen.« Er starrte zu Nightingale hinaus, der Proserpina noch immer das ledergebundene Buch hinhielt.
Mit klackenden Absätzen eilte Sylvia zur Schalterleiste und legte alle drei Lichtschalter um. Helligkeit durchflutete den Raum.
Proserpinas Kopf fuhr herum. Sie starrte zur Terrassentür und fletschte die Zähne, als sie Mitchell dort stehen sah. » Mitchell!«, schrie sie so laut, dass die Scheiben vibrierten. Mitchell trat einen Schritt zurück und stieß mit dem Bein gegen den Sessel hinter ihm.
Nightingale ließ das Buch fallen und hielt plötzlich einen Dolch in der rechten Hand. Er schwang ihn gegen Proserpinas Brust. Ein Blitz zuckte auf, dann noch einer, und Proserpina taumelte aufheulend zurück. Aus dem Zentrum des goldenen Ankh schoss schwarzes Blut und ergoss sich in einem pulsierenden Strom auf Nightingales Beine. Wieder zuckte ein Blitz, und es folgte ein so lauter Donnerschlag, dass der Boden erbebte.
Nightingale trat aus dem Pentagramm heraus und stach ihr mit verzerrtem Gesicht immer wieder in die Brust. Er schrie sie an, aber der Wind riss ihm die Worte vom Mund und trug sie fort.
» Nein…«, sagte Mitchell und stützte sich schwer auf den Sessel. » Das kann nicht sein.«
Proserpinas Hund rannte mit eingezogenem Schwanz davon, die Ohren flach an den Kopf gelegt. Er duckte sich, als hoffte er, unbemerkt zu entkommen.
Proserpina fiel mit zuckenden Armen nach hinten um. Wieder und wieder leuchteten Blitze auf, und gleichzeitig ertönten Donnerschläge. Nightingale stellte sich breitbeinig über sie und rammte ihr das Messer mit beiden Händen ein letztes Mal in die Brust.
Sie bäumte sich auf, trat um sich und lag dann reglos da.
» Ich glaube es nicht«, flüsterte Mitchell. » Er hat es geschafft.« Er blickte auf die Uhr. Es war gerade einmal zwei Minuten nach Mitternacht. Er schaute wieder auf die Terrasse hinaus. Nightingale stand aufrecht da, den Dolch in der rechten Hand, und der Wind zerrte an seinem Mantel. » Sechzig Jahre lang habe ich die Geheimnisse studiert, aber das hier hätte ich niemals geschafft.« Er sah Sylvia an, die noch immer bei der Tür stand, die Hand auf die Lichtschalter gelegt. » Nightingale hat ein Wunder vollbracht. Haben Sie das gesehen, Sylvia? Haben Sie gesehen, was er getan
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