Hoellennacht
aufgenommen, und in den zwei Jahren zuvor hat er den größten Teil der Vermögenswerte abgezogen, die er bei uns liegen hatte. Die Finanzkrise hat die Sache natürlich nicht besser gemacht– das Haus hat an Wert verloren und ebenso sein Aktienpaket.«
» Im Haus waren keine Möbel, wussten Sie das?«
» Als ich zum letzten Mal dort war, war es vollständig möbliert. Sehr schöne Möbel, überwiegend Antiquitäten. Und eine sehr wertvolle Gemäldesammlung.«
» Na ja, jetzt ist alles weg«, sagte Nightingale. » Wie viel Geld hatte er denn bei Ihnen angelegt, bevor er es abgezogen hat?«
» Ich kann Ihnen die Summe nicht nennen, ohne seine Unterlagen zu Rate zu ziehen«, erklärte der Bankdirektor. » Und auch wenn Sie sein Erbe sind, bin ich dazu wohl nicht befugt.«
» Ungefähr«, sagte Nightingale. » Über den Daumen gepeilt.«
» Über den Daumen gepeilt?« Collinson starrte zur Decke hinauf, als stünden die Zahlen dort angeschrieben. » Ich würde sagen zwölf Millionen Pfund Bargeld. Etwa eine Million in Krügerrands und Goldbarren. Ein Aktienportfolio von plus/minus fünfzehn Millionen Pfund.« Er sah Nightingale wieder an. » Ich würde sagen, irgendwo im Bereich von achtundzwanzig Millionen Pfund.«
» Und die Hypothek?«
» Zwei Millionen«, antwortete Collinson.
» Damit sagen Sie also, dass Ainsley Gosling in einigen wenigen Jahren dreißig Millionen Pfund durchgebracht hat und dass Sie keine Ahnung haben, wofür er sie ausgegeben hat?«
» Leider war es wohl noch mehr«, erklärte der Bankdirektor. » Wir verwalten nur sein Vermögen in England. Soviel ich weiß, gab es aber außerdem noch Aktiva in den Vereinigten Staaten, Mitteleuropa und Asien, insbesondere Hong Kong und Singapur.«
» Und auf welchen Betrag beliefen die sich?«
Collinson zuckte die Schultern. » Ich besitze keine exakten Zahlen über seine Vermögenswerte in Übersee, aber es muss sich um mehr als hundert Millionen Pfund gehandelt haben.«
Nightingale saß benommen da. » Hundert Millionen?«
» Mehr.«
» Und das ist alles weg?«
» Leider ja.«
» Es gibt keinen Hinweis, dass er erpresst wurde oder ein Drogenproblem hatte oder spielsüchtig war?«
» Wir machen es uns nicht zur Gewohnheit, das Privatleben unserer Kunden auszuspionieren, Mr. Nightingale«, sagte Collinson so verächtlich, als hätte Nightingale ihn gerade des Ladendiebstahls bezichtigt.
» Hauptsache, Sie haben ihr Geld?«
» Genau«, antwortete der Bankdirektor, dem der Sarkasmus vollkommen entging.
10
Nightingale brauchte einen Drink und Zeit zum Nachdenken. Er fuhr nach London zurück, parkte den MGB in einem Parkhaus in der Nähe seines Büros und verschwand dann in einem seiner Lieblingspubs vor Ort. Es war ein düsteres Lokal, dessen Modernisierung schon seit längerer Zeit anstand– kein einarmiger Bandit, keine auf alt gemachte Speisekarte mit Lammkeulen aus der Mikrowelle und Chili con Carne, sondern einfach nur eine lange Theke, ein paar Tische und ein grauhaariger, alter Barmann, der Nightingale nicht anschaute oder versuchte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Auf dem Weg zur Theke rief er Jenny an. » Ich bin im Nag’s Head«, sagte er. » Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«
» Ja, Alkohol regt bekanntlich den Gedankenfluss an«, meinte sie spitz.
» Komm und leiste mir Gesellschaft.«
» Ich versuche gerade, mir einen Überblick über unsere fälligen Außenstände zu verschaffen«, sagte Jenny. » Wenn wir unseren Cash-Flow nicht in den Griff bekommen, können wir die Mehrwertsteuer nicht bezahlen.«
» Jetzt machst du mir ein schlechtes Gewissen«, nölte Nightingale.
» Das bezweifle ich«, gab sie zurück. » Lass dein Handy an. Falls es ein Problem gibt, ruf ich dich an.«
Nightingale bestellte ein Bier– ein Corona– und setzte sich an die Theke. Wenn Goslings Erklärung stimmte, hatten seine Eltern ihn buchstäblich vom Tag seiner Geburt an belogen. Sie hatten nie auch nur eine Andeutung fallen lassen, dass er nicht ihr Kind sei. In der Grundschule waren zwei Jungen in seiner Klasse Adoptivkinder gewesen, und er hatte mit seiner Mutter darüber gesprochen, aber sie hatte ihm nie den leisesten Hinweis gegeben, dass sie nicht seine leibliche Mutter war. Nightingale begriff nicht, warum sie ihm nicht gesagt hatten, dass er adoptiert war. Es war ja keine Schande, und er hätte sie deswegen nicht weniger geliebt, aber jetzt war die Wahrheit herausgekommen, und er konnte sie nicht mehr fragen, warum sie ihn belogen
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