Hoellenpforte
vorbeiritt, versteckte er sich hinter einem geparkten Auto und beobachtete ihn im Seitenspiegel, bis er verschwunden war.
Er wollte sich gerade wieder aufrichten, als plötzlich etwas Riesiges hoch über den Wolkenkratzern durch die Dunkelheit flog. Matt konnte nicht sehen, was es war, aber er vermutete, dass es irgendein gigantischer Vogel gewesen war – vielleicht sogar der Kondor aus den Nazca-Linien. Er war plötzlich aufgetaucht, wie ein vorbeisegelnder Schatten, und dann wieder verschwunden. Jetzt wusste Matt, dass die ganze Stadt verpestet war: die Straßen, das Wasser, sogar die Luft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er entdeckt und gefangen genommen wurde. Jede weitere Minute auf der Straße brachte ihn in größere Gefahr.
Er wartete, bis er sicher war, dass niemand kam. Dann richtete er sich auf und lief weiter, dicht an den Gebäuden entlang, damit er schnell in ihrem Schatten untertauchen konnte, wenn es sein musste. Er kam an eine Kreuzung. Ein Auto war ins Schleudern gekommen und gegen einen Poller gekracht. Es war vollkommen verbeult und die Hupe heulte. Matt konnte den Fahrer sehen, der, vom Sicherheitsgurt festgehalten, halb aus der Tür hing. Sein Kopf und seine Brust waren voller Blut, aber es kam niemand, um ihm zu helfen.
Ein Straßenschild. Matt schaute auf und las die beiden Wörter direkt über sich. Harcourt Road. Der Name sagte ihm etwas.
Paul Adams ist nach Wisdom Court zurückgekehrt… Es liegt hier, in der Harcourt Road.
Er erinnerte sich, wie Han Shan-tung ihm die verschiedenen Punkte auf dem Stadtplan gezeigt hatte. Plötzlich wusste er, was er tun würde. Der Zufall hatte ihn in die richtige Straße geführt. Wenn Paul Adams in der Wohnung war, würde er ihn womöglich hineinlassen. Vielleicht hatte er dann wenigstens einen Unterschlupf, bis es hell wurde.
»Hilf mir…«
Der Mann im Auto war nicht tot. Seine Augen, die unnatürlich weiß aussahen, waren plötzlich offen. Er schien zu weinen, aber seine Tränen bestanden aus Blut. Es gab nichts, was Matt für ihn tun konnte. Er wendete sich ab und rannte los.
Die Straße schien kein Ende zu nehmen. Matt kam an noch mehr Läden, einem Krankenhaus und einem riesigen Kongresszentrum vorbei. Er sah keine Polizeiwagen mehr, aber er hörte ihre Sirenen in der Ferne heulen. Einmal kam ein Taxi vorbei, das auf der falschen Straßenseite wilde Schlangenlinien fuhr. Er bog um eine Ecke. Vor einem Bürogebäude stand eine altmodische Straßenbahn. Wenn man sich die chinesische Aufschrift wegdachte, sah sie aus wie etwas, das auch durch London hätte fahren können – allerdings zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Die Bahn war voller Leute. Sie saßen einfach nur in sich zusammengesunken da und bewegten sich nicht. Matt hatte keine Ahnung, ob sie noch lebten oder schon tot waren, und er hatte nicht vor, es herauszufinden. Er vermutete, dass es eine Mischung aus beidem war.
Irgendwie gelang es ihm, Wisdom Court zu finden. In Macau hatte er nur einen kurzen Blick auf die Karte geworfen und sich damit einen groben Überblick verschafft. Aber plötzlich tauchte er vor ihm auf, der Name auf dem Steinblock. Dahinter lag eine Einfahrt mit einem Brunnen. Die breite Eingangstür flankierten zwei fauchende Löwen aus Stein. Das Gebäude sah ganz normal aus. Es lag im Dunkeln, nur im zwölften Stock – Matt zählte die Fensterreihen – brannte Licht und er glaubte, einen Vorhang wehen zu sehen, als sich dort jemand bewegte.
Die Einfahrt war nicht gereinigt worden. Sie war mit Laub und Papierfetzen übersät. Der Springbrunnen war abgestellt. Als Matt auf die Tür zuging, hatte er das Gefühl, dass das ganze Haus bis auf die Wohnung im zwölften Stock leer war. Draußen parkten keine Autos. Er drückte sein Gesicht gegen die Glastür und sah in den Empfangsbereich. Er war leer. Die Tür war verschlossen. Neben ihr waren mehr als hundert Klingelknöpfe, die aber nur nummeriert und nicht mit Namen versehen waren.
Ob das wirklich eine gute Idee war? Matt blieb ein paar Sekunden lang unentschlossen stehen, kalt und nass, und ging die verschiedenen Möglichkeiten durch. Han Shan-tung hatte vermutet, dass Paul Adams gemeinsame Sache mit den Alten gemacht hatte. Er war dabei gewesen, als Scarlett verhaftet wurde. Aber konnte er seine eigene Tochter wirklich zum Tode verurteilt haben? Bestimmt nicht.
Im Grunde war es auch vollkommen gleichgültig, ob Matt ihm traute oder nicht. Er war halb erfroren. Er musste ins Warme, weg von der
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