Höllenqual: Lenz’ zehnter Fall (German Edition)
gewordenen Dreizimmerwohnung,
verbracht. Oftmals war die Bibel sein Begleiter gewesen, und mehr als einmal hatte
er sich dabei ertappt, wie er gezweifelt hatte. Wie er sich und Gott gefragt hatte,
warum denn nur seine Frau und seine Tochter hatten ihr Leben lassen müssen. Und
an manchen Abenden war es ihm nicht einmal gelungen, Gott aus der Verantwortung
für den Tod seiner geliebten Menschen zu entlassen. Ja, er hatte sogar diesen Gott
verflucht, der das alles zugelassen und ihn diesem Schmerz ausgesetzt hatte. Natürlich
kamen im Anschluss an diese Emotionen in schöner Regelmäßigkeit Schuldgefühle bei
ihm auf, und ebenso selbstverständlich schämte er sich dann für seine Gedanken.
Irgendwann
im Spätwinter war er endgültig mit seiner Kraft am Ende gewesen. Es war ein lausig
kalter Morgen, an dem er einfach im Bett liegengeblieben war, mit der Decke über
dem Kopf und in der Hoffnung, dass er einfach sterben würde, was natürlich nicht
geschehen war. Drei Tage später war er weinend aufgestanden, unrasiert und ungeduscht
in die Straßenbahn gestiegen und in die Innenstadt gefahren. Von der Haltestelle
aus hatte ihn sein Weg direkt zu jenem Warenhaus geführt, in dem er zusammen mit
Gerlinde die ersten Kleidungsstücke für die kleine Sarah gekauft hatte, um mit dem
Fahrstuhl sofort zur obersten Verkaufsebene zu fahren. Von dort führte eine Treppe
eine weitere Etage höher, zum obersten Parkdeck, auf dem er schließlich im Schneetreiben
gestanden und über die Kante auf die belebte Königsstraße, die Einkaufsmeile der
Stadt, hinabgesehen hatte.
Ich springe
jetzt hinunter!, hatte Bernd Ahrens sich mehr als 100 Mal gesagt, und wieder und wieder
hatte er gezögert. Immer wieder hatte er seinen Oberkörper nach vorn gebeugt, in
der Hoffnung, dass sein Mut in genau jener Millisekunde ausreichen würde, um endlich
wieder zu Sarah und Gerlinde zu gelangen, und immer wieder war er zurückgezuckt,
bis ihm irgendwann klar geworden war, dass er es nicht tun konnte. Er würde es nicht
tun, weil er Angst hatte; Angst vor dem Sterben und Angst vor dem Tod.
Auf dem
langen Fußweg nach Hause, frierend, weinend und voller Selbstzweifel über das, was
er gerade erlebt hatte, war eine Entscheidung in ihm gereift. Eine Entscheidung,
die er schon am nächsten Morgen in die Tat umsetzte, indem er sich weiterhin im
Möbelhaus krankmeldete, zur psychiatrischen Ambulanz im Stadtteil Wilhelmshöhe fuhr
und einer netten, hilfsbereiten Psychologin in einem mehr als zweistündigen Gespräch
seine zutiefst besorgniserregende Situation schilderte. Bernd Ahrens kam für 14
Tage auf eine psychiatrische Akutstation, wo er mit Medikamenten und Gesprächen
so weit wieder hergestellt wurde, dass eine weitere Suizidgefahr mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen war. Die Therapeuten hatten sich in
täglichen Sitzungen mit ihm beschäftigt und gemeinsam mit dem Witwer an die Oberfläche
gebracht, dass er sich der dringend notwendigen Trauerarbeit in den Monaten zuvor
einfach verweigert hatte. Das würde er nun in Angriff nehmen. Und zu einer weiteren
Erkenntnis war er gelangt. Nämlich der, dass er seinen Glauben und die Verflechtung
zu seiner Gemeinde überprüfen musste. Dutzende Male hatte er über die angsteinflößende
Situation auf dem Parkdeck nachgedacht, die ihn leicht das Leben hätte kosten können;
sein Leben, an dem er scheinbar sehr viel mehr hing, als er es sich je hatte eingestehen
wollen. Sein Leben, das er, seit er denken konnte, in die Hände Gottes gelegt hatte,
dem Schöpfer und Bewahrer. Mit dem Verlassen der Klinik und der Heimkehr in die
ehemals gemeinsame Wohnung hatte er mehr und mehr zu zweifeln begonnen, wurde deswegen
jedoch immer wieder von Schuldgefühlen geplagt. Mal war er sich sicher, dass es
Gott, wenn es ihn denn gäbe, niemals zugelassen hätte, dass er sich in die Gefahr
auf dem Parkdeck begeben hätte. Dann wieder sagte er sich, dass es vermutlich Gottes
Werk gewesen sein musste, dass er nicht gesprungen war. Manchmal wachte er morgens
in der sicheren Gewissheit auf, nun die Antwort auf alle Fragen gefunden zu haben,
was jedoch oft nur bis zum Duschen anhielt. So vagabundierte er hin- und hergerissen
durch seine Gedankenwelt und hatte oft das Gefühl, tatsächlich verrückt zu werden.
Natürlich besuchte er weiterhin regelmäßig die Veranstaltungen der Gemeinde und
ließ sich dabei auch nicht anmerken, was in ihm vorging. Auch den Aufenthalt in
der Klinik ließ er unerwähnt und
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