Höllenqual: Lenz’ zehnter Fall (German Edition)
das ihm die Tränen in die Augen trieb. Dann wuchtete
er seinen merkwürdig leichten Körper mit einer entschlossenen Bewegung nach vorn.
25
Werner Wiesinger empfing die beiden
Polizisten in einem völlig mit Akten, Zeitschriften und sonstigen Utensilien vollgestopften
Büro. Nachdem er sich freundlich erkundigt hatte, warum denn das Bein des Hauptkommissars
in Gips stecke, wollte er mehr darüber erfahren, was seine Besucher zu ihm geführt
hatte.
»Wie mein
Kollege am Telefon schon erwähnt hat, geht es um die ›Bibeltreue Glaubensgemeinschaft
Kassel‹. Wir erhoffen uns von Ihnen ein wenig Aufklärung über das Wirken und die
Mitglieder dieser … Gemeinschaft.«
Der Mann
hinter dem Schreibtisch legte schon bei der Erwähnung des Namens die Stirn in Falten.
»Nun, da
haben Sie sich gleich eine ganz harte Nuss ausgesucht, meine Herren. Die ›Bibeltreue
Glaubensgemeinschaft Kassel‹ ist, was ihre Ziele und Bestrebungen angeht, eine der
fundamentalistischsten Organisationen, die wir in Hessen kennen; und vermutlich
gilt das ebenso für ganz Deutschland.«
»Interessant.
Wenn ich Sie richtig verstehe, würden Sie diese Leute als gefährlich einschätzen?«
»Da müssten
wir zunächst den Begriff ›gefährlich‹ definieren, Herr Kommissar. Wenn Sie ihn im
allgemein-polizeilich gebrauchten Zusammenhang sehen, muss ich das verneinen. Von
ihnen geht keine akute Gefahr für Leib und Leben anderer Menschen aus. Wenn wir
den Begriff auf ihr mittel- und langfristiges Wirken herunterbrechen, dann würde
ich mit voller Überzeugung bestätigen, dass sie gefährlich sind.«
»Wie meinen
Sie das?«
Wiesinger
richtete sich in seinem abgewetzten Bürostuhl auf, legte die Arme auf den Tisch
und hob den Kopf.
»Diese Organisation,
die integraler Bestandteil des Netzwerks ›Evangelische Union‹ ist, missioniert auf
sehr subtile und für Außenstehende oft harmlos wirkende Weise. Allerdings werden
Menschen, die sich ihr erst einmal angenähert haben, mit zum Teil psychisch destabilisierenden
Methoden an die Sekte gebunden. Und ›Sekte‹ sage ich hier ganz bewusst und ausdrücklich.
Zwar gibt es viele dieser Sekten, die sich vom Namen her unterscheiden, die Hintergründe
ihres Wirkens sind jedoch immer die gleichen. Die Menschen, die bei ihnen Mitglieder
sind, werden zu einem Leben angehalten, das sich an der wörtlichen Auslegung des
Alten Testaments orientiert.«
»Wie ist
das zu verstehen?«
Wiesinger
fing müde an zu lächeln.
»Oh, wenn
es nicht so gefährlich wäre, könnte man sich eigentlich über die Gedanken dieser
Gruppen herzhaft amüsieren. Aber das geht leider nicht mehr, weil sie auf ihrem
Weg durch die Instanzen schon ziemlich weit gekommen sind.«
Er wurde
wieder ernst.
»Die evangelikale
Bewegung nimmt für sich in Anspruch, nach eben jenen Werten und Vorgaben zu leben
und zu denken, die im Alten Testament niedergeschrieben worden sein sollen. Das
bedeutet zum Beispiel, dass sie davon ausgeht, dass unsere Erde, also die Welt,
auf der wir leben, nicht älter ist als ungefähr 6000 Jahre. Jeder Mensch, der sich
nur halbwegs für Wissenschaft interessiert, weiß, dass dies ein hanebüchener Unsinn
ist, doch es ist diesen Leuten einfach nicht klarzumachen, dass sie in dieser Hinsicht
kolossal auf dem Holzweg sind. Es steht so in der Bibel, also muss es stimmen. Natürlich
wird mächtig Propaganda gemacht für diese These, frei nach dem Motto: ›Wennich
es nur oft genug wiederhole, wird es schon wahrwerden.‹
»Wie viele
dieser Menschen«, unterbrach Hain seinen Vortrag, »gibt es nach Ihrer Meinung in
Deutschland?«
» Die evangelikale
Bewegung in Deutschland und Europa ist zwar auf dem Vormarsch, jedoch gibt es bei
uns noch lange nicht so viele Personen, die sich als überzeugte Evangelikale bezeichnen,
wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten. Dort geht man davon aus, dass gut
ein Viertel der Bevölkerung diesem religiösen Zweig zugerechnet werden kann, also
ungefähr 80 Millionen; bei uns dürfte die Zahl zwischen zwei und drei Millionen
liegen, was etwa zwei bis vier Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Aber, und
das sollten wir nicht unterschätzen, es werden immer mehr.«
Lenz sah
den kleinen, rundlichen Mann hinter dem Schreibtisch ungläubig an.
»Nur, dass
ich Sie richtig verstehe, Herr Wiesinger. Sie wollen mir tatsächlich weismachen,
dass ein Viertel aller Amerikaner glaubt, die Welt sei nicht älter als 6000 Jahre?«
Wiesinger
nickte.
»Ich würde
Ihnen gern etwas
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