Höllenqual: Lenz’ zehnter Fall (German Edition)
anderes sagen, klar, aber es ist tatsächlich so. Und das ist lange
noch nicht alles. Diese religiöse Strömung verfügt über große finanzielle Mittel,
die sie natürlich dafür einsetzt, den Menschen ihre Leitbilder als die einzig Richtigen
darzustellen. Zum Beispiel gibt es in Amerika mehrere Themenparks und Museen, die
sozusagen die Genesis, also die Schöpfungsgeschichte, in einer Art Disneyland des
Kreationismus darstellen.«
»Moment!«,
ging Hain dazwischen. »Was bedeutet das – Kreationismus?«
»Das ist
der Ausdruck, dessen sich die Evangelikalen bedienen, wenn Sie die Entstehung der
Erde beschreiben, was nichts anderes heißt, als dass wir bei Adam und Eva beginnen
und uns dann bis zur Sintflut durchhangeln. Natürlich alles in ein paar Jahrhunderten.
Und genau darauf will ich hinaus, wenn ich von diesen Themenparks und Museen spreche,
die in den letzten Jahren und Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten entstanden
sind. Dort existieren, nach Darstellung der Kreationisten, Mensch und zum Beispiel
Dinosaurier fröhlich vereint nebeneinander; zur gleichen Erdzeit, wohlgemerkt.«
»Und diesen
Unsinn glauben die Besucher?«
»Diesen
Unsinn glauben die allermeisten der geschätzten zwölf Millionen Besucher jährlich,
ja. Und weiterhin glauben sie fest daran, dass die Evolutionslehre und alles, was
damit zusammenhängt, Teufelszeug sei.«
Nun schüttelte
Lenz den Kopf.
»Ich glaube
Ihnen ja, was Sie da sagen, Herr Wiesinger, aber so richtig verstehen kann und will
ich es nicht. Die Welt hat so viele wissenschaftliche Erfahrungen und Entdeckungen
gemacht in den letzten Jahrzehnten, dass es schon einer gehörigen Portion Ignoranz
bedarf, um das alles in Abrede zu stellen.«
»Oder einfach
einer Portion Glauben«, spann Wiesinger den Gedanken des Polizisten weiter. »Der
Glaube versetzt in diesem Fall leider wirklich Berge.«
»Wohl wahr.«
»Und das
ist nur der Teil der Sache, mit dem man noch am ehesten umgehen kann. Leider beinhaltet
der Kreationismus auch Auswüchse, die weit über das hinausgehen, was wir gerade
besprochen haben.«
»Und die
wären?«
»Am schlimmsten
ist meiner Meinung nach die gelebte Intoleranz«, antwortete Wiesinger mit bekümmertem
Gesicht.
»Viele Anhänger
von Religionen, so auch die Evangelikalen, nehmen für sich in Anspruch, die, und
hier verzeihen Sie mir bitte meine offenen Worte, Weisheit mit Löffeln gefressen
zu haben. Also quasi über ihren Glauben ein Monopol auf die göttliche Unfehlbarkeit
gepachtet zu haben, was natürlich den Umgang mit Andersdenkenden und Andersgläubigen
extrem schwer macht. Und wenn man sich dann noch auf ein Denkmuster beruft, dessen
Herkunft mehr als zwei Jahrtausende alt ist, wird die ganze Sache schon ziemlich
unübersichtlich. Und auch unappetitlich.«
»Sie meinen
zum Beispiel den Umgang mit Homosexuellen?«
»Zum Beispiel,
ja. Oder auch ihre Haltung zu Fragen wie Abtreibung, der Gleichstellung der Frau,
dem Islam und dem Judentum.«
»Die mögen
die anderen Religionen nicht so gern?«
»Nicht so
gern?«, lachte Wiesinger laut auf. »Das ist die netteste Umschreibung dafür, die
ich je gehört habe. Vergessen Sie bitte nicht, dass alle Religionen im großen Wettstreit
um Mitglieder und damit um Macht, Einfluss und Geld stehen. Bei den Evangelikalen
gehört die Herabsetzung und Herabwürdigung anderer Religionen also sozusagen zum
guten Ton.«
»Wo treffen
sich diese Gruppen?«
»In ihren
Kirchen. Sie selbst zumindest nennen ihre Versammlungsorte so.«
»Gibt es
in Nordhessen noch weitere evangelikale Gruppen?«
»Aber ja,
natürlich. Soweit ich weiß, gibt es solche in Melsungen, in Hofgeismar, in Ahnatal,
in Baunatal, in Guxhagen, in Korbach und so weiter.«
»Man hört
doch immer wieder, dass es schwer ist, aus Sekten auszusteigen. Gilt das auch für
die Evangelikalen?«
»Und ob.
Mit Renegaten, so nennen sie Menschen, die ›vom Glauben abgefallen sind‹, wird keineswegs
zimperlich umgegangen. Bei den Zeugen Jehovas nicht, bei den Scientologen nicht
und bei den Evangelikalen erst recht nicht. Das wird nach außen hin oftmals gar
nicht so deutlich, aber ich könnte Ihnen von Fällen erzählen, da würden Ihnen die
Tränen kommen, und das meine ich wirklich wörtlich. Die Vorgehensweisen als Stasimethoden
zu bezeichnen, wäre nicht übertrieben.«
»Zum Beispiel?«,
wollte Hain wissen.
»In der
Regel ist es so, dass ganze Familien sich zu den Evangelikalen bekennen. Was bedeutet,
dass eine Scheidung auf gar keinen
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