Höllenqual: Lenz’ zehnter Fall (German Edition)
etwas
nicht stimmte. Ihr Vater war da und ihre Mutter war da, und das war überaus ungewöhnlich.
Was sie allerdings noch mehr verunsicherte, war die Tatsache, dass sie kein kleines
Kind mehr war. Sie war eine erwachsene Frau, die sich von ihrem Vater durch die
Luft schleudern ließ und dabei lauthals giggelte.
Warte!, wollte
sie rufen, doch aus ihrem Mund lösten sich keine Worte mehr. Auch das, was ihr Vater
sagte, kam nun nicht mehr bei ihr an; nur das Keifen ihrer Mutter war noch zu vernehmen.
Dann bemerkte
sie, dass der Kontakt zu den Händen ihres Vaters sich langsam löste. Mehr und mehr
entglitt sie ihm, und mit jedem Zentimeter wuchs ihre Angst, sich weh zu tun. Halt
mich fest, Papa, dachte sie verzweifelt, ›und lass mich bitte, bitte nicht
los! ,doch all ihr stummes Bitten verhallte ungehört, denn im gleichen
Augenblick rutschte sie ihm aus den Händen und flog davon. Aber sie fiel nicht auf
den Boden, sondern flog weiter und weiter, wobei sie immer mehr an Höhe gewann.
Sie konnte von oben ihre Eltern sehen, die sich, statt ihr erschreckt nachzustarren,
einfach abwandten und davongingen.
Geh nicht
weg!, Papa, hätte sie gern gerufen, doch dazu kam sie nicht mehr, denn nun
verlor sie im gleichen, verstörenden Maß an Höhe, wie sie sie vorher gewonnen hatte.
Noch zwei Sekunden, dann würde sie auf dem Boden aufschlagen, noch eine Sekunde,
und jetzt …
Der Aufprall
war so hart, dass sie glaubte, in der Mitte auseinandergebrochen zu sein. Ihr Gesicht
schrammte über die saftig grüne Wiese, die sie kurz zuvor noch aus luftiger Höhe
gesehen hatte, und der Schmerz, der von ihrer Nase ausging, trieb ihr schlagartig
die Tränen in die Augen. Und trotzdem konnte sie den Geruch von frischer Erde wahrnehmen.
»Aua!«,
schrie sie und war wieder irritiert, weil sie jetzt ihre eigene Stimme hören konnte.
»Scheiße, tut das weh!«
In ihrem
Mund schmeckte plötzlich alles nach Blut, und über ihren Augen, dort, wohin ihr
Vater sie vorher geküsst hatte, fing es fürchterlich an zu brennen.
»Na, wie
gefällt dir das, du beschissene Nutte?«, wollte eine Stimme wissen. Eine Männerstimme,
die jedoch nicht zu ihrem Vater gehörte. Außerdem wusste ihr Vater nicht, womit
sie ihr Geld verdiente.
Moment,
Moment! Ich gehe anschaffen, weil mein Vater unsere gesamten Ersparnisse verspekuliert
hat. Außerdem ist Papa schon lange tot.
Ihr Körper
bewegte sich nun rasend schnell. Es war, als hätte sie jemand bewegt. Dann bekam
sie keine Luft mehr.
Nicht schon
wieder dieser Traum, in dem ich ersticken muss, dachte
sie panisch. Alles, nur nicht diesen Traum.
In den Jahren
nach dem Tod ihrer Eltern war Viola manchmal nachts schweißgebadet und mit Atemnot
hochgeschreckt, weinend und völlig kraftlos. Dann hatte sich wieder einmal der immer
gleiche Traum in ihr Unterbewusstsein geschlichen, in dem sie einfach dasaß und
keine Luft mehr bekam; in dem sie sich praktisch beim Ersticken zusehen konnte.
Ich dachte,
diese Scheiße hätte ich längst hinter mir, fuhr es ihr durch den Kopf,
aber diese ›Scheiße‹ fühlte sich nun gar nicht mehr an wie ihr Traum.
Plötzlich
wurde ihr bewusst, dass sie nicht nur keine Luft bekam, sondern dass sie sich auch
nicht bewegen konnte. Doch, die Beine konnte sie bewegen. Und die Augenlider, die
sie im gleichen Moment aufriss.
Oh Gott,
schoss es ihr durch den Kopf, als sie realisierte, dass sie sich nicht in ihrem
Traum befand, sondern dass der Mann, der sich mit diesem komischen österreichischen
Namen, der ihr längst entfallen war, vorgestellt hatte, auf ihrem Oberkörper saß,
mit seinen Händen ihren Hals umklammerte und sie würgte.
Hör auf
damit, du verdammtes Arschloch!, wollte sie wutentbrannt schreien,
doch nun kam wirklich kein Ton aus ihrer Kehle, und schlagartig wurde ihr klar,
dass er dabei war, sie zu töten.
Er bringt
mich um!
Vor ihren
Augen tanzten Sterne, und ihre Kehle brannte wie Feuer.
Kann die
Luftröhre eines Menschen platzen oder brechen, wenn sie so brutal zusammengedrückt
wird?
In diesem
Augenblick löste sich sein Griff für einen winzigen Moment, und dieser Moment löste
so etwas wie Hoffnung in Viola aus, weil sie einen Sekundenbruchteil lang frische
Luft in ihre Lungen saugen konnte. Frische Luft, die vielleicht sogar gut geschmeckt
hätte, wenn es ihr denn möglich gewesen wäre, etwas zu schmecken.
»Aaahhh!«,
schrie sie ihm entgegen, was sie sofort als Fehler begriff, weil sie dabei viel
von der lebenswichtigen Atemluft wieder
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