Höllental: Psychothriller
sollte, sonst würde er diese Frage und diesen Blick wohl den Rest seines Lebens mit sich herumtragen. Er konnte es auch nicht riskieren, in Zukunft bei jedem Rettungseinsatz den letzten Blick der Laura Waider vor Augen zu haben und dadurch unkonzentriert zu sein.
Der Laden hatte samstags bis vierzehn Uhr geöffnet. Aber Anais würde sich freuen, etwas länger arbeiten zu können. Sie hatte Zeit und brauchte das Geld. Zeitlich war es also kein Problem, zur Beerdigung nach Augsburg zu fahren. Wenn er für einen Rettungseinsatz den Laden überraschend verlassen musste, klappte das ja auch immer. Sich einzureden, dass er wegen des Geschäfts nicht wegkonnte, war also gelogen.
Roman stützte sich mit den Händen auf den Verkaufstresen und starrte gegen die Wand. »Ich werde ihren Blick nicht los«, sagte er.
»Rate mal, warum ich dich auffordere, zu ihrer Beerdigung zu gehen«, sagte Tobias.
»Ach so. Der Herr Doktor sieht darin einen Therapieansatz.«
Tobias schüttelte den Kopf und wurde ernst. »Du steckst emotional so tief drin, dass dir gar nichts anderes übrig bleibt. Nach der Beerdigung kannst du das Thema abschließen und wieder zum Alltag übergehen.«
»Ich habe bereits zweiundsechzig Leichen aus den Bergen geborgen. Wenn ich zu jeder Beerdigung hätte gehen wollen, um danach weitermachen zu k önnen, wäre ich zu sonst nichts mehr gekommen.«
Tobias zuckte mit den Schultern. »Schon möglich. Aber bisher ist dir noch nie jemand aus der Hand gerutscht und vor deinen Augen in den Tod gestürzt. Richtig?«
Plötzlich verkrampfte sich Romans Hand zur Faust, und ein scharfer Schmerz schoss durch seinen Arm bis in die Schulter hinauf.
»Richtig«, sagte er leise.
Sie trafen sich in Richard Schröders Wohnung. Diese lag zentral und bot ausreichend Platz. Aus ihrer Clique war Ricky der Einzige, der über mehr verfügte als eine bessere Besenkammer. Darüber hinaus war seine Wohnung kostspielig eingerichtet. Ikea-Qualität kam für ihn nicht infrage. Das Wohnzimmer war mit einem riesigen Flachbildschirm und einem Bose Surround-System der Extraklasse ausgestattet, auf der sich jeder Actionfilm anhörte, als befände man sich mitten im Krieg. Auf all das war Ricky stolz und führte es gern vor.
Bernd Lindeke kam als Letzter. Mara sah sofort, dass es ihm sehr schlecht ging. Er wirkte gehetzt. Seine Augen huschten unablässig hin und her, er schwitzte und hatte dunkle Flecken unter den Achseln. Sein dünnes aschblondes Haar war ungepflegt, und rasiert hatte er sich auch nicht.
Mara lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Fensterbank. Als Bernd das Wohnzimmer betrat, löste sie sich davon, ging zu ihm hinüber und umarmte ihn. Er fühlte sich heiß an und roch unangenehm nach Schweiß.
»Danke, dass du mich angerufen hast«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Es zerreißt mich«, flüsterte er zurück und schluchzte. Sein Oberkörper bebte.
Mara strich ihm über den Rücken. »Ich weiß … ich weiß.«
Sie hielt ihn noch einen Moment und war sich bewusst, dass die anderen sie beobachteten. Weder Armin noch Ricky hatte Mara umarmt. Sicher fragten sich die beiden, warum sie mit diesem Loser mehr Mitleid hatte. Die Antwort war einfach: Bernd war der Einzige, der offensichtlich litt. Armin und Ricky wirkten wie immer. Aufgebracht, auch traurig, ja, aber nicht leidend.
Armin Zoltek saß in einer lässigen Pose auf einem Hocker an der kleinen Bar. Armin war eins fünfundachtzig groß, hatte dichtes hellbraunes Haar, grüne Augen und ein schmales Gesicht. Er war durchtrainiert und stark, seine Schultermuskeln waren beeindruckend. Auf eine verwegene Art sah er gut aus, besonders mit Dreitagebart. Er trug nie etwas anderes als Jeans zu einem schwarzen T-Shirt, im Bedarfsfall mal eine Jacke dazu.
Als Mara den Raum betreten hatte, war Armin schon da gewesen. Und obwohl sie mal mit ihm zusammen gewesen war und mit ihm geschlafen hatte, war sie nicht in der Lage einzuschätzen, was in Armin vorging. Das war nie anders gewesen. Trotzdem waren sie während ihrer Touren immer das perfekt eingespielte Team gewesen und waren es noch. Armin und sie waren die technisch versiertesten Kletterer ihrer Clique. Armin war als Einziger sogar hin und wieder Free solo unterwegs und trainierte auch regelmäßig in der Kletterhalle des DAV . Früher hatten sie es zusammen getan, aber das war vorbei.
Mara löste sich von Bernd und sah ihm in die Augen. Er war nahe dran zu weinen. Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln und
Weitere Kostenlose Bücher