Höllental: Psychothriller
musste ich Anfang August für ein paar Wochen zu meinen Eltern nach Frankreich. Heute weiß ich, ich hätte nicht fahren sollen. Ich hätte für Laura da sein müssen. Sie hat sich abgekapselt. Auch von Ricky wollte sie nichts mehr wissen.« Mara trat vor das Fenster und sah in die Dunkelheit hinaus. Es hatte leicht zu schneien begonnen. »Und leider hat keiner von uns wirklich intensiv versucht, ihr zu helfen. Auch ich nicht. Ich hätte viel mehr tun müssen.«
Sie hörte, wie Roman Jäger sich ebenfalls erhob. Er näherte sich ihr von hinten, blieb aber zwei Schritte entfernt stehen. »Sie dürfen sich nicht solche Vorwürfe machen«, sagte er. »Wenn ein Mensch keine Hilfe will, dann kann man ihn kaum zwingen. Ich kenne das von mir selbst. Ich renne lieber zehnmal gegen die Wand, bevor ich einmal frage, wo die Tür ist.«
Mara konnte sein Spiegelbild im Fenster sehen. Er wirkte bedrückt, und was er sagte, war sicher ehrlich gemeint. Er wollte sie trösten. Helfen konnte er ihr damit nicht. Diese Schuld würde ewig auf ihr lasten.
Er trat einen Schritt zur Seite. Seine Spiegelung verschwand. Draußen fuhr ein Wagen auf der Straße entlang. Dessen Scheinwerferlicht fiel für den Bruchteil einer Sekunde in die gegenüberliegende Bushaltestelle.
Jemand stand darin und starrte zu ihrem Fenster hinauf. Als das Auto vorüber war, verschwand er in der Dunkelheit.
Erschrocken zuckte Mara zurück. »Da ist jemand.«
Roman Jäger trat neben sie. »Wo ist jemand?«
»Drüben, in der Bushaltestelle. Ich habe ihn gesehen. Er hat mich angestarrt.«
Er warf einen Blick hinaus, aber die Bushaltestelle lag jetzt im Dunkeln.
»Ist das so schlimm?«, fragte Roman. »Es ist schließlich ein Wartehäuschen.«
Mara schüttelte den Kopf. »Jetzt fährt kein Bus mehr. Und außerdem …«
»Ja.«
»Ich fühle mich schon seit dem Tag, an dem ich von Lauras Tod erfahren habe, beobachtet. Und Bernd hat so eine komische Bemerkung gemacht.«
»Worüber?«
»Ich weiß nicht … Er glaubt wohl, der Typ, der Laura vom Berg begleitet hat, könnte sich für ihren Tod an uns rächen.«
Roman runzelte die Stirn. »Warum sollte er das tun wollen?«
»Seitdem Bernd das gesagt hat, lässt mich ein Gedanke nicht mehr los«, sagte Mara und sah Roman an. »Was, wenn dieser Typ ein Stalker ist? Wenn er von dem Tag an zu Lauras Schatten wurde? Das würde doch alles erklären, oder?«
Erneut fuhr ein Wagen auf der Straße entlang. Jetzt sah auch Roman die regungslose Gestalt in der Bushaltestelle.
»Das klären wir jetzt«, sagte er und lief los.
»Nein! Warten Sie. Das ist zu gefährlich.«
Aber Roman Jäger wartete nicht. Polternd lief er die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, riss die Haustür auf und stürmte los. Mit seinen langen Beinen war er viel schneller als Mara. Als sie selbst gerade auf den Bürgersteig hinaustrat, verschwand er schon im Dunkel des Wartehäuschens.
Sie hörte ihn schreien. »Hey! Was tust du da?«
Mit an den Mund gepressten Händen blieb Mara an der Fahrbahnkante stehen. Ihr Herz wummerte wie verrückt. Aus der Bushaltestelle drangen Kampfgeräusche.
Nur einen Augenblick später zerrte der große, kräftige Roman Jäger einen wesentlich kleineren Mann aus dem Dunkel heraus. Roman befand sich hinter ihm, hatte ihm den rechten Arm um den Hals geschlungen und drückte so fest zu, dass der andere wohl keine Luft bekam. Dessen Füße berührten den Boden kaum noch. Verzweifelt riss er mit seinen Händen an dem Arm, entkam der Umklammerung aber nicht. Seine Augen quollen aus den Höhlen.
Mara kannte diese Augen.
Es war Bernd Lindeke.
»Nein«, rief sie. »Lassen Sie ihn los. Das ist Bernd.«
Sie lief zu den beiden hinüber.
»Bitte, lassen Sie ihn los. Das ist Bernd Lindeke.«
Erst jetzt lockerte Roman Jäger seinen Griff.
Bernd sackte nach vorn und wäre auf die Straße gefallen, wenn Roman ihn nicht an der Schulter gepackt hätte.
Er sah schlimm aus.
Sein aschblondes dünnes Haar stand wirr vom Kopf ab, er hatte Schmutz im Gesicht und an der Kleidung. Seine Hände zitterten genauso wie seine Lippen. Unstet huschten seine Pupillen hin und her. Angst und Panik lagen in seinem Blick.
»Bernd. Was ist los? Was ist passiert?«
»Du darfst ihm nicht trauen«, rief er mit hoher Stimme. »Er hat uns alle hintergangen. Ich habe Beweise … Er allein ist an allem schuld.«
»Was? Von wem redest du? Und wie siehst du aus? Komm doch erst mal rein, dann können wir in Ruhe über alles reden.«
»Nein. Er darf
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