Höllental: Psychothriller
entkommen und sich im Nichts verlieren würde.
Damit wäre sie von ihrem Leid erlöst.
Petras Hand begann zu zittern. Ganz leicht vibrierte der Lauf der Waffe an ihren Schneidezähnen.
Wie würde es sich anfühlen? Und durfte sie denen, die blieben, den Anblick, den Schmerz, die Schande zumuten? Frauen, so hatte sie in dem Krimi ebenfalls gelesen, schossen sich nicht in den Kopf. Frauen nahmen Gift oder sprangen von einer hohen Brücke …
In einer Sekunde könnte sie Laura wieder ganz nahe sein. Könnte all die Gespräche nachholen, die sie in den letzten Monaten verpasst hatten. Hier auf der Erde war alles erledigt. Friedhelm brauchte sie nicht. Er hatte seine Firma.
Petra schloss die Augen, konzentrierte sich darauf, ihre Hand stillzuhalten und den richtigen Winkel beizubehalten. Sie legte den Finger an den Abzug, atmete tief ein und hielt den Atem an.
So unfassbar still war es in diesem Moment, dass sie laut und deutlich das Poltern in dem Raum unter sich hörte.
Petra Waider riss die Augen auf und nahm die Waffe aus ihrem Mund. Den Lauf zu Boden gerichtet horchte sie.
Das Geräusch wiederholte sich nicht, doch sie hatte es zweifelsfrei gehört. Ein schweres Poltern, so als sei etwas umgestürzt. Genau unter ihren Füßen befand sich das Arbeitszimmer ihres Mannes. Sie wusste, dass er sich im Moment dort aufhielt.
Petra blickte auf die Waffe. Friedhelm hatte sie gekauft, als die Firma immer erfolgreicher und ihr Bankkonto immer voller wurde. Durch seine guten Kontakte hatte er an drei Wochenenden hintereinander ein Schießtraining auf der Schießanlage der Polizei organisieren können. Dort hatte ein Trainer ihm und seiner Frau die Grundlagen des Umgangs mit Faustfeuerwaffen beigebracht. Friedhelm war danach noch öfter hingegangen, sie aber nicht. Ihre kleine Waffe war im Nachtschrank verschwunden, mit Panzerband an die Rückseite einer Schublade geklebt. Einmal im Jahr hatte Friedhelm sie mit auf den Schießstand genommen, sie abgefeuert, gereinigt und wieder an ihrem Platz verstaut.
Petra hatte sie nie gebraucht.
Plötzlich wollte sie sie auch heute nicht mehr gebrauchen.
Sie legte sie auf den runden Beistelltisch, erhob sich mühsam aus dem Sessel und verließ ihr Ankleidezimmer. Auf der schummrigen Galerie blieb sie stehen, sah über das Geländer ins Foyer hinunter und lauschte.
Stille.
»Friedhelm.« Der Name ihres Mannes hallte in der leeren, gekachelten Halle, die sie wegen ihrer kalten Anonymität nie gemocht hatte. Eine Antwort bekam sie nicht, also stieg Petra die geschwungene Treppe hinunter. Vor der Tür zum Arbeitszimmer ihres Mannes blieb sie stehen, legte die Hand auf die Klinke, verharrte aber genauso wie zuvor oben im Ankleidezimmer.
Sie ahnte, was sie vorfinden würde, und fragte sich, ob es nicht besser wäre, noch ein wenig Zeit vergehen zu lassen. Für Laura. Denn mehr als ihre Mutter brauchte sie ihren Vater dort oben. Sie hatten so viel Zeit miteinander nachzuholen, so viele Vater-Tochter-Gespräche zu führen, bei denen sie selbst nur stören würde.
Fünf Minuten blieb Petra Waider mit der Hand auf der Klinke in der kalten Halle des großen Hauses stehen. Ein Teil von ihr starb in dieser Zeit.
Dann betrat sie das Arbeitszimmer.
Auf halber Strecke zwischen Schreibtisch und Tür lag ihr Mann bäuchlings da, den linken Arm zur Tür gestreckt, den rechten unter seinem Brustkorb.
Petra ging neben ihm auf die Knie, beobachtete ihn. Sein Brustkorb bewegte sich nicht.
»Friedhelm?«, sagte sie leise und rüttelte an seiner Schulter.
Als er keine Reaktion zeigte, bot sie all ihre Kraft auf, um den schweren, leblosen Körper umzudrehen.
Seine Augen standen schreckensweit auf. Sein Mund war geöffnet, die Zunge quoll hervor.
Petra legte zwei Finger an seine Halsschlagader. Wartete. Sehr lange. Doch da war kein Leben mehr. Wovor sein Kardiologe seit Jahren warnte, war nun eingetreten. Sein Herz hatte aufgegeben.
Sanft schloss sie seine Lider.
»Sei jetzt der Vater, den sie nie hatte«, flüsterte sie.
Roman Jäger legte das Handy beiseite.
»Das war unser Einsatzleiter«, sagte er. »Es gab einen Unfall bei einer Bergung, zwei Kollegen sind verletzt und fallen aus. Sie brauchen mich. Ich muss am Nachmittag die Bereitschaft übernehmen.«
»Fahr los«, sagte Mara sofort. »Das ist wichtiger. Ich schaff das auch allein.«
Roman sah sie nachdenklich an. Ihr langes brünettes Haar war noch vom Schlaf zerzaust, ihre Augen wirkten müde. Sie machte keinen fitten Eindruck,
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