Hörig (German Edition)
ich mir vorgestellt, dass du so bleibst. Verrückt, was? Aber wenn man sonst nichts hat, woran man sich festhalten kann. Was hätt’ ich mir denn sonst vorstellen sollen? Ich dachte, du hättest mich mal besucht, nachdem dein Vater es dir nicht mehr verbieten konnte. Es waren doch bloß noch zwei Monate bis zu deinem Geburtstag. Mit achtzehn hättest du dir keine Vorschriften mehr machen lassen müssen. Aber du hast mir nich’ mal geschrieben.»
«Ich war sehr krank, Heiko.»
Er nickte, als sei ihm das bereits bekannt. «Hast dich aber gut erholt», stellte er nach ein paar Sekunden fest und drückte die Zigarette auf dem Blumenuntersetzer aus. Dann nahm er seine Tasse mit beiden Händen und hob sie zum Mund. Der Kaffee war noch zu heiß, um ihn so hinunterzukippen wie den Cognac. Er trank vorsichtig einen Schluck, schaute ihr über den Tassenrand hinweg in die Augen und wirkte so einsam dabei, so verloren.
Und Ed hatte gesagt, Heiko Schramm sei eiskalt und berechnend, eine Bestie, die – hätte man sie nicht hinter Gitter gebracht – ihr wohl bald mit einem Lächeln und ein paar sanften Worten ein Messer durch die Kehle gezogen hätte. Und sie im Arm gehalten, während sie verblutete. Ihr in die Augen gesehen, bis sie brachen, weil ein Psychopath wie Heiko Schramm sich dabei wie Gott fühlen konnte, zumindest wie der Herr über Leben und Tod.
Als die Patientin, die Edmund an die auf vierzig Kilo abgemagerte Patrizia erinnert hatte, um zehn vor elf die Tür des Sprechzimmers hinter sich schloss, wechselte er aus dem bequemen Ohrensessel, in dem er Anne Sobisch gegenübergesessen hatte, an seinen Schreibtisch im Nebenraum. Der Kaffee für ihn stand schon bereit, darum kümmerte sich Sybille Grandes, seine Empfangsdame oder Sprechstundenhilfe oder als was immer man sie sonst bezeichnen wollte. Sie wusste, dass er nicht viel Zeit hatte.
Wie üblich machte er sich ein paar Notizen über den Verlauf des Gesprächs, vor allem über den Rückfall der Patientin. Er war verärgert über seine Fehleinschätzung. Und statt zur Kaffeetasse schwebte seine Hand plötzlich über dem Telefon, was ihn noch mehr verärgerte.
So weit kam es noch, dass er jetzt daheim anrief, um ein paar Worte mit der Frau zu wechseln, die ihm täglich vor Augen führte, was ein guter Therapeut bewirken konnte. In Patrizias Fall durfte man es getrost als Wunder bezeichnen.
Dabei hatte er sich zu Beginn ihrer Therapie so unfähig gefühlt. Nachdem Patrizia in der zweiten Probestunde ein paar verworrene Sätze von sich gegeben und er sich mit ihr schon auf dem Erfolgsweg gesehen hatte, war er in der dritten Stunde eines Besseren belehrt worden.
Kein Zugang zur Patientin, egal, welches Thema er anschnitt. Sie reagierte weder auf prähistorische Urwälder noch auf Edelsteine, die man auch auf Fensterbänke legen konnte. Und er hatte sich nach dem erneuten Gespräch mit ihrem Vater und der Lektüre der beiden Tagebücher so gut vorbereitet gewähnt.
In der vierten Stunde war es nicht anders. Danach vertiefte er sich noch einmal in die Tagebücher, suchte hinter jedem Wort die doppelte Bedeutung, überdachte jeden Satz, auch wenn er klar verständlich geschrieben war. Und bei manchen Passagen wünschte er sich, sie hätte sich etwas ausführlicher darüber ausgelassen. Ihn hätte zum Beispiel brennend interessiert, was ihr Vater ihr an dem Abend, an dem er sich bei der Goldschmiede auf die Lauer gelegt und sie mit Schramm erwischt hatte, alles an den Kopf geworfen hatte. Aber da stand nur:
Ich bin furchtbar wütend auf Papa. Zum Glück musste Heiko nicht hören, was er alles zu mir gesagt hat. Aber nun weiß mein Schatz gar nicht, was passiert ist und dass Papa mich jetzt jeden Abend bei Retlings abholen will.
Ich frage mich, was Heiko denkt, wenn er in den nächsten Wochen immer vergebens auf mich wartet. Er muss doch annehmen, dass ich ihn nicht mehr sehen will. Ich habe Dorothea gebeten, ihm Bescheid zu sagen. Aber sie hat seine Telefonnummer nicht und meinte, ich soll ihn besser vergessen. Wie könnte ich das?
Ich spüre seine Lippen noch auf meinen. Vielleicht fühlt er mich auch noch. Vielleicht kann er hören oder spüren, was ich denke. Er darf nicht aufgeben. Egal, wie lange es dauert, in meinen Gedanken bin ich jede Sekunde bei ihm.
Der Hinweis auf Dorothea passte in das Märchen vom Zusammentreffen in der WG . Obwohl Patrizia nach Pauls Dazwischenfunken keine Veranlassung mehr gesehen hatte, eine hübsche Version für ihre Eltern
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