Hörig (German Edition)
Fenster hinauf und stellt sich vor, dass er ganz nah bei mir ist. Es ist ein himmlisch warmes Gefühl, einzuschlafen und genau zu wissen, dass da draußen ein Mann steht, der mich wirklich liebt. Das tut Heiko. Und Papa kann es nicht verhindern. Er kann es ihm nicht so einfach verbieten, wie er mir verbietet, mit Heiko zu reden. Er kann ihn auch nicht wegjagen. Auf der Straße darf jeder stehen, wo er will. Und es darf jeder denken, was er will.
Selbst wenn man gewaltige Abstriche machte und sich vor Augen hielt, dass ein Großteil ihrer Eintragungen wohl eher dem Wunschdenken einer verliebten Siebzehnjährigen als der Realität entsprungen war, blieb noch genug übrig für das Bild eines Mannes, der sich seiner Verantwortung gegenüber einem jungen Mädchen bewusst gewesen war.
Und nicht nur der Verantwortung ihr gegenüber, wenn man den in kindlicher Schönschrift verfassten Texten Glauben schenkte. Patrizia hatte vom Drogenhandel nicht nur gewusst. Sie hatte diesen Broterwerb sogar gutgeheißen – allerdings nur solange Schramm ihn ausübte. Der hatte sich ihr diesbezüglich in einem langen Vortrag als Samariter dargestellt, was sie dermaßen beeindruckt hatte, dass sie es für die Nachwelt festhielt.
Heiko weiß genau, wie die meisten Leute darüber denken. Ein Dealer ist für die der allerletzte Dreck. Die müssten einmal gesehen haben, wie so einem armen Schwein zumute ist, wenn es keinen Stoff bekommt, dann würden sie anders darüber urteilen, sagt er. Er hat schon oft erlebt, wenn sie zusammenbrechen, heulend und kotzend in einer Ecke liegen. Die sind krank, Püppi, richtig krank, sagt er. Die brauchen das Zeug nicht zum Träumen, die brauchen es zum Überleben. Und er holt es ihnen eben, richtig guten Stoff, damit sie nicht bei irgendeinem Straßenhändler etwas kaufen, das mit Rattengift oder Gips gestreckt ist. Man soll nicht glauben, was da alles reingepantscht wird, um den Profit zu erhöhen, sagt Heiko. Und so ein armes Schwein jagt sich das in die Adern und geht hops. Wen kümmert’s? Sind doch bloß Junkies, oder? Nein, Püppi, das sind Menschen wie du und ich. Im Gegensatz zu uns haben sie nur irgendwann den Halt verloren, hatten keinen, der für sie da war. Jetzt haben sie wenigstens ihn. Natürlich ist das für ihn ein Risiko. Aber das hält er so klein wie möglich. Er nimmt immer eine Frau mit, die zwei kleine Kinder und nicht viel Geld hat. Dann sieht es aus wie ein Familienausflug. So kommt die arme Frau mit ihren Kleinen zu ein bisschen Erholung, und keiner kommt auf die Idee, Heikos Auto zu kontrollieren.
Als Edmund das las, fragte er sich unwillkürlich, was aus diesem Mädchen hätte werden können, wäre sie vor einem Jahr dem richtigen Mann begegnet. Keinem Ganoven, aber auch keinem grünen Jungen, der altersmäßig zu ihr gepasst hätte. Mit so einem wäre aus ihr wohl nur eine durchschnittliche Ehefrau ohne besondere Ambitionen geworden. Aber ein Mann mit Erfahrung und einer gewissen Reife, einer, an den sie sich anlehnen konnte, der ihr Sicherheit gab, ihr erlaubte, ihre Phantasie auszuleben – und ihre Hingabefähigkeit.
Es war nicht so, dass Edmund schon zu diesem Zeitpunkt mehr in ihr gesehen hätte als eine Patientin, die dringend kompetente Hilfe brauchte. Kein einigermaßen normal veranlagter Mann verliebte sich in vierzig Kilo Haut und Knochen. Er sah sie vor sich: ein lebloses Bündel auf der Kante eines Sessels, mit Fingern, so dünn wie Zahnstocher, gerade achtzehn Jahre alt und schon völlig ohne Perspektive. Keine Kraft, kein Lebenswille, nicht einmal mehr ein Ohr, um dem Mann zuzuhören, der ihr zu helfen versuchte.
Erzwungene Prostitution? Darauf gab es in ihren Tagebüchern nicht den geringsten Hinweis. Und wenn man es richtig überdachte – was Edmund zwischen der vierten und der fünften Stunde tat –, hatte sie gar nicht die Zeit gehabt, Schramm zuliebe einen anderen Mann zu beglücken. Aber wenn es nicht darum gegangen war, worum dann? Was mochte diesen Mann bewogen haben, sich nächtelang die Beine in den Bauch zu stehen, nur um in ihrer Nähe zu sein?
Und in einem stillen Winkel auf der privaten Seite seines Hirns fragte Edmund sich, wie viel Wert er selbst noch auf die Nähe seiner Lebensgefährtin legte. Keinen allzu großen, wie er sich eingestehen musste, umgekehrt war das wohl ebenso.
Sie hatten sich während des Studiums kennengelernt und waren seitdem ein Paar. Beatrice war ebenfalls Psychologin, wohnte in Frechen und arbeitete dort in einer
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