Hörig (German Edition)
er stehen – zur Sicherheit und um sich, wie er sagte, voll und ganz auf sie konzentrieren zu können. In Straßenbahn und Bus bestand nicht die Gefahr, Leute zu treffen, die sie und ihren Vater kannten.
Bis die Bahn kam, standen sie eng umschlungen. Während der Fahrt saßen sie dicht aneinandergeschmiegt. Sie spürte Heikos Arm im Nacken, seine Hand auf dem Oberarm, die andere Hand auf einem Schenkel, wo sie kaum merklich auf und ab strich. Sie hörte sein Flüstern: «Ich hatte schon Angst, dass ich dich nie wiederseh, Püppi. Dass dir übers Wochenende doch noch aufgefallen ist, dass einer wie ich nicht gut genug für dich ist.»
Als sie in Raderthal aussteigen musste, blieb er sitzen. «Ich fahr lieber noch ’ne Station weiter», sagte er. «Man weiß ja nicht, wie viele Spione dein Vater auf uns angesetzt hat.»
Dann küsste er sie auf die Wange und sagte: «Bis morgen, Püppi, lern schön, damit dir der Tag nicht lang wird.»
Und am Donnerstag stand er frühmorgens wieder am Gleis. Da ergatterten sie in der Straßenbahn nur einen freien Sitzplatz, und er nahm sie auf den Schoß. Freitags mussten sie beide stehen, eingezwängt in einen Haufen anderer Menschen, die auch so früh zur Arbeit fuhren.
Sie hielt sich mit beiden Armen an Heiko fest, drückte ihr Gesicht gegen seine Brust, sog den immer gleichen herben Duft ein, diese Mischung aus Zigarettenrauch und Rasierwasser, fühlte seinen Herzschlag und seine Wärme durch den Stoff seines schwarzen Hemdes, hörte sein Flüstern, die Beschwörungsformel für die kommenden Nächte.
Damit sie das Wochenende überstanden, ohne vor lauter Sehnsucht krank zu werden, wollte er jeden Abend kommen und sich in ihrer Nähe ausmalen, was er mit ihr tun würde, wenn sie zusammen wären.
«Wann gehst du normalerweise ins Bett, Püppi?»
«Ich gehe immer nach dem Abendessen in mein Zimmer», sagte sie. «Kurz nach acht.»
«Gut», sagte er. «Dann bin ich um acht Uhr da. Du legst dich auf dein Bett, und wenn du dich konzentrierst, wirst du fühlen, dass ich bei dir bin und was ich mit dir mache.»
Er beschrieb ihr in allen Einzelheiten, wo und wie er sie berühren und küssen würde, bis sie das Gefühl hatte, an seiner Brust zu zerfließen. Und abends war er da, stand pünktlich um acht an der Straßenecke, gut dreißig Meter von ihrem Elternhaus entfernt und trotzdem so dicht bei ihr, dass sie ihn fühlte und jedes Wort auf der Haut spürte, das er morgens gesagt hatte.
Sie legte sich nach dem Abendessen nicht sofort aufs Bett, stellte sich zuerst ans Fenster und schaute ihn an, obwohl ihr die Knie so weich dabei wurden, dass sie sich an der Fensterbank festhalten musste. Bis ihr Vater hereinkam und verlangte, dass sie sofort den Rollladen herunterließ. Danach legte sie sich hin, und Heiko war immer noch bei ihr. Sie spürte ihn sogar noch etwas intensiver als am Fenster.
Und das war eine Form von Nähe, die man keinem Menschen wirklich begreiflich machen konnte, nicht einmal Ed.
Sie versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln. Das gelang ihr nicht. Zwischen Heikos detaillierten Schilderungen von zärtlichen Berührungen bis hin zur leidenschaftlichen Ekstase krochen ihr wohl noch ein, zwei Gedanken an Eddi durchs Hirn. Aber Ed schien irgendwo in ferne Zukunft entschwunden zu sein und hatte sie mit einem Bruchteil seines Wissens und seiner Ansichten in der Vergangenheit zurückgelassen.
Sie wusste nicht, wie sie sich in der gegenwärtigen Situation verhalten sollte. Heiko um den Hals fallen? Vielleicht wollte er das nicht. Es wäre ihm wahrscheinlich zu plump gewesen, ein gewöhnlicher Körperkontakt, primitiv und alltäglich. Er hatte doch immer nur das Besondere, das Außergewöhnliche gewollt.
Weiterstammeln?
Ich habe dich auch vermisst, Heiko. Ich bin so froh, dass du endlich wieder da bist.
Nein, nein, nichts in der Art. Das konnte er unmöglich glauben, nachdem er sie als verheiratete Frau in gutbürgerlichem Wohlstand wiedergefunden hatte.
Ihre Hände zitterten unkontrolliert. Warum sagte er nichts?
Flüchtig fragte sie sich, was Ed wohl sagen würde, wenn er wüsste, wer ihr gerade in der Diele gegenüberstand.
«Er hatte so viel Interesse an deiner Person wie an einem Wetterbericht vom vergangenen Oktober.»
Danach sah es wahrhaftig nicht aus. Wie er sie anschaute! Einfach nur anschaute, weil er damals nichts anderes hatte tun müssen, um sie in ein willfährig schmachtendes Bündel Sehnsucht zu verwandeln. Und nachdem er sie allein mit seinen
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