Hörig (German Edition)
zu schreiben.
Was ihren Vater anging, sah Edmund seine Einschätzung voll und ganz bestätigt. Paul war ein Tyrann, der uneingeschränkte Herrscher über sein Reich und seine Untertanen. Wahrscheinlich liebte er seine Jüngste abgöttisch und mit doppelter Inbrunst, seit die Älteste sich ihm entzogen hatte. Seitdem wachte Paul über Patrizia und ihr Wohlergehen mit kleinlicher Eifersucht und erwartete im Gegenzug von ihr unbedingten Gehorsam und bedingungslose Liebe.
Von dieser Sorte Vater gab es viele, und keiner hätte jemals einsehen wollen, dass seine Bemühungen zwangsläufig im Gegenteil enden mussten. Meist hielten sich ja auch die Schäden, die sie anrichteten, in Grenzen. Leider nicht immer – Patrizias Tagebuch war der beste Beweis dafür. Es hatte exakt den Verlauf genommen, den Edmund hätte vorhersagen können. Auf die erste Verliebtheit folgte die Trotzreaktion.
Nach einem tränenreichen Wochenende und einem trübsinnigen Montagabend, an dem ihr Liebster anscheinend nicht bemerkt hatte, dass sie an ihm vorbeikutschiert wurde, hatte sie dienstags geschrieben:
Ich habe immer noch fürchterliches Herzklopfen. Ich habe Heiko gesehen, als Papa mich abholte. Er stand nicht weit von Retlings Haus entfernt am Straßenrand. Wahrscheinlich hat er dort auf mich gewartet, weil ich gestern Abend nicht zur Bushaltestelle gekommen bin und er nicht wusste, was passiert war.
Leider hat Papa ihn auch bemerkt, ist ausgestiegen und hat ganz schreckliche und gemeine Sachen zu ihm gesagt, die mag ich gar nicht wiederholen.
Heiko ist uns trotzdem gefolgt, den ganzen Weg bis nach Hause. Jetzt steht er unten an der Straßenecke. Vom Fenster aus konnte ich ihn eben noch sehen. Dann hat Papa den Rollladen hinuntergelassen und mir verboten, ihn wieder hinaufzuziehen und noch mal aus dem Fenster zu schauen.
Jetzt lege ich mich ins Bett und stelle mir vor, dass Heiko bei mir ist. Er ist in Gedanken immer bei mir, genauso wie ich bei ihm bin, das weiß ich. Wir liegen nebeneinander und sehen uns an. Er hat sensationelle Augen. Wenn er mich anschaut, wird mir ganz warm, sogar ein bisschen schwindlig. Ich könnte in seinen Augen versinken.
Ein gefühlsmäßig überschwänglich veranlagter und verträumter Teenager, war Edmunds Eindruck, als er diese Passage las. Die erste große Liebe. Aber eigentlich hätte Schramm an diesem Abend erkennen müssen, dass weiteren Bemühungen seinerseits enge Grenzen gesetzt waren.
Eine Siebzehnjährige, die noch völlig unter Papas Fuchtel stand, selbst das kleinste Verbot befolgte und nicht mehr am Fenster erschien, um wenigstens noch einen Blick auf den Heißgeliebten zu werfen, womit Schramm doch garantiert gerechnet hatte. Da fuhr man heim und suchte sich etwas Neues, wenn man nur auf der Suche nach einem willigen und leicht zu beeindruckenden Geschöpf war, das man eventuell für ein paar Nebeneinkünfte an gutbetuchte Kunden vermieten konnte.
Den Verdacht «erzwungene Prostitution» hegte Edmund immer noch. Frei nach dem Motto: «Schätzchen, wenn du mich wirklich so sehr liebst, würdest du mir dann aus einer schrecklichen Klemme helfen? Ich schulde einem Mann eine Riesensumme Geld. Der lässt mir beide Arme und die Beine brechen, wenn ich es nicht bald zurückzahle. Leider weiß ich nicht, wie ich so viel Geld auftreiben soll …» Und so weiter.
Bei einer bestimmten Sorte Mann standen Jungfrauen nun mal besonders hoch im Kurs. Edmund nahm an, dass Schramm sie deshalb nicht angerührt, aber auch nicht mehr aus seinen Fängen gelassen hatte.
In ihren Tagebüchern suchte Edmund vergebens nach einem Monster. Er fand nur Träume und Sehnsüchte, eine üppig wuchernde Vorstellungskraft und einen Mann, der als Musterbeispiel des romantischen Liebhabers dargestellt wurde.
Als Ausbund an Rücksichtnahme und phantasievoller Hinwendung hatte sie Schramm beschrieben, jede Sekunde Nähe voll ausschöpfend. Ein wahrer Romeo, der sich auch in windigen Regennächten unter ihrem Fenster die Beine in den Bauch stand. Na ja, nicht direkt unter ihrem Fenster, die Straßenecke war ein gutes Stück entfernt. Aber es fehlte nur die Laute, um ihr ein Ständchen zu bringen.
Jetzt steht Heiko schon den vierten Tag an der Straßenecke. Ich sah ihn schon von weitem, als wir eben heimkamen. Wir haben uns im Vorbeifahren kurz angeschaut. Er hat gelächelt. Er wird die ganze Nacht draußen bleiben. Gestern und vorgestern war er auch die ganze Nacht draußen, ich konnte ihn fühlen.
Er schaut zu meinem
Weitere Kostenlose Bücher