Hörig (German Edition)
weiß ja nicht einmal, ob sie mich hört.»
Paul presste für einen Augenblick die Lippen aufeinander und atmete durch. «Das tut sie bestimmt, Herr Doktor. Taub ist sie nicht. Und es muss eine Möglichkeit geben, ihr klarzumachen, dass Schramm ein Schwein ist.»
«Ich nehme an, das hat sie von Ihnen bereits oft genug gehört», erwiderte Edmund ein wenig härter als beabsichtigt. «Aber sie sieht ihn nun mal nicht so. Und ich – unter uns gesagt – auch nicht. Gut, er war ein Dealer, davon gibt es viele. Patrizia konnte damit umgehen, in ihren Augen tat er das aus reiner Menschenliebe. Es muss sie bis ins Mark getroffen haben, als ein Richter eine derart drastische Strafe über Schramm verhängte. Und sieben Jahre sind wirklich eine sehr hohe Strafe für Drogenhandel in dem Stil, in dem Schramm ihn betrieb. Vermutlich wurde an ihm ein Exempel statuiert.»
Paul schwieg. Es sah so aus, als warte er darauf, dass Edmund weitersprach. Als das nicht geschah, murmelte Paul nach etlichen Sekunden: «Schramm wurde nicht für seine Touren nach Amsterdam verurteilt.»
Edmund war zu überrascht, um sofort nachzufragen. Er spürte Ärger in sich aufsteigen und setzte zu einer heftigen Entgegnung an. Da bemerkte er die schweren Atemzüge. Paul kämpfte mit sich, ob er weitersprechen sollte. Es war ein harter Kampf. Erst nach mehr als einer Minute kam endlich eine Erklärung: «Die Anklage lautete auf bewaffneten Raubüberfall und schwere Körperverletzung. Von Drogenhandel war gar nicht die Rede.»
«Aha», sagte Edmund nur. Das konnte noch nicht alles gewesen sein. Das hätte Paul schon im Vorgespräch mitteilen können. Es war in keiner Weise ehrenrührig für Patrizia. Als Paul keinerlei Anstalten machte weiterzusprechen, erkundigte Edmund sich mit erzwungener Ruhe: «Wen hat er überfallen?»
«Einen Goldschmied», sagte Paul so leise, dass Edmund ihn nur mit Mühe verstand. Es folgte noch ein Seufzer, ehe Paul die ungeheuerliche Ahnung bestätigte, die gerade neben dem Ärger in Edmund aufstieg: «Albert Retling. Und Schramm hat ihn nicht nur ausgeraubt, sondern auch noch halb totgeschlagen. Es hat nicht viel gefehlt, dann wäre Albert an seinen Kopfverletzungen gestorben.»
«Phantastisch», murmelte Edmund und sprach dann in normaler Lautstärke weiter: «Jetzt sagen Sie mir nur noch, dass Patrizia ihn auf die Idee gebracht hat, weil sie gerne einen Smaragd für die Fensterbank haben wollte.»
«Nein», fuhr Paul auf. «Einer von seinen sauberen Freunden hat Schramm dazu überredet. Patrizia war für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Ausgenutzt hat er sie, und darauf war er auch noch stolz. Sie hätten hören müssen, wie er im Polizeiverhör über das dumme Ding herzog.»
«Im Polizeiverhör?», fragte Edmund ungläubig. «Waren Sie etwa dabei, als er vernommen wurde?» Vorstellen konnte er sich das nur schwer, gewundert hätte es ihn bei Paul allerdings auch nicht.
Paul schüttelte den Kopf. «Ich habe die Unterlagen zu Hause und weiß nicht, wie oft ich ihr das schon vorgelesen habe. Sie lächelt nur und glaubt mir kein Wort.»
«Sie haben Vernehmungsprotokolle zu Hause?», fragte Edmund fassungslos und dachte: Beziehungen muss der Mensch haben.
«Nur Kopien», schränkte Paul ein, als ob das einen nennenswerten Unterschied gemacht hätte für ein Mädchen, dem daraus vorgelesen wurde. «Ich hatte einen Anwalt mit der Wahrnehmung von Patrizias Interessen beauftragt, falls Schramm behauptet hätte, was Sie eben auch angenommen haben. Hat er aber nicht …»
«Ich will diese Kopien sehen», schnitt Edmund ihm erneut das Wort ab. «Und wenn Sie mehr haben als Vernehmungsprotokolle, will ich auch den Rest sehen.»
«Wozu soll das gut sein?», fragte Paul. «Jetzt wissen Sie doch Bescheid.»
«Nicht ganz», widersprach Edmund. «Und ich bezweifle, dass Sie wissen, was Sie mit Ihrer Radikalkur bewirkt haben. Wenn ich weiß, was genau Sie Patrizia vorgelesen haben, kann ich immerhin abschätzen, wie groß der angerichtete Schaden ist und ob ich ihn beheben kann. Aber Sie können sich in Ruhe überlegen, ob Sie mir Einblick in diese Unterlagen gewähren oder ob Sie Ihre Tochter doch lieber in eine Klinik bringen.»
Pauls wunden Punkt kannte Edmund doch längst zur Genüge. Schon zwei Tage später lag ein prallgefüllter Aktenordner auf seinem Schreibtisch. Die gesamten Prozessunterlagen, angereichert durch handschriftliche Notizen, die Paul wohl selbst während der Verhandlung gemacht hatte.
Der Papierwust in
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