Hörig (German Edition)
wollte, hatte sie mehrfach versucht, sich vorzustellen, was alles geschehen könnte, wenn Heiko aus der Haft entlassen wurde. Aber irgendwann hatte sie aufgehört, darüber nachzudenken. Sehr weit war sie mit ihren Gedanken ohnehin nie gekommen, immer nur bis zur Haustür.
Hallo, Heiko!
Jetzt saß sie neben ihm. Und der kleine Koffer lag vorerst unerreichbar hinten auf der Rückbank. Aber das war momentan nicht so tragisch. Allmählich gelang es ihr, die Gedanken zu bündeln und sich auf eine konkrete Vorstellung der nächsten Stunden zu konzentrieren.
Dass sie nicht Richtung Autobahn und weiter in die Eifel fuhren, war ihr bereits klar und vereinfachte alles ein wenig. Es ging nach Raderthal. Natürlich zur Goldschmiede! Er hatte doch von Steinen gesprochen und dass sein Kumpel hoffte, Retling würden ihm welche zeigen. Im Ferienhaus gab es keine Juwelen.
Zurzeit gab es allerdings auch in Retlings Haus keine Steine zu besichtigen. Das wusste sie mit Sicherheit, weil sie letzte Woche noch dort gewesen war. Inzwischen musste Heikos Freund ebenfalls festgestellt haben, dass es bei Albert Retling nichts zu sehen und nichts mehr zu holen gab. Er hatte also keinen Grund, sich noch länger in dem Haus aufzuhalten.
Ob Heiko sie mit hineinnahm? Rein theoretisch war das nicht unbedingt notwendig. Vorausgesetzt, er traute ihr und rechnete nicht damit, dass sie weglief, während er seinen Kumpel aus dem Haus holte. Wenn er sie aufforderte mitzukommen, traute er ihr nicht und ging lieber das Risiko ein, dass die Retlings sie sahen, wenn die dazu in der Lage waren. Sie war nicht so naiv zu glauben, Albert und Alwine Retling säßen vollkommen unversehrt mit Heikos Freund bei einem Kaffee im Wohnzimmer.
Im Geist spielte sie die Variante durch, in der Heiko ihr vertraute und sie schützen wollte wie damals. Er stieg aus und sagte: «Wart einen Moment, Püppi. Ich hol nur meinen Kumpel. Es geht gleich weiter. Die Retlings müssen nicht sehen, dass du bei mir bist. Denen erzähl ich, wir beide hätten uns nur unterhalten, dann hätte ich dir viel Glück mit deinem Mann gewünscht. Ich kann auch behaupten, ich hätte dich nicht angetroffen und die ganze Zeit umsonst gewartet. Was ist dir lieber?»
Während er zum Haus ging, würde sie ebenfalls aussteigen und sich nach hinten setzen, wie sich das für eine Frau gehörte, die genau wusste, dass Männer lieber vorne saßen. Heikos Freund wahrscheinlich hinter dem Steuer, weil er der bessere Fahrer war, Heiko auf dem Beifahrersitz. Umgekehrt machte es aber auch keinen Unterschied. Dann würden sie weiterfahren, zu dritt. Albert und Alwine Retling blieben im Haus zurück – wahrscheinlich genauso hilflos wie in der Nacht des Überfalls.
Wie weit war es denn noch bis Raderthal? Es kam ihr so vor, als führen sie schon eine Ewigkeit.
Vielleicht war das ihr Ziel.
Wir werden uns lieben, bis wir verrückt werden.
Vielleicht war das der Preis.
Es tut mir leid, Ed, dachte sie.
Teil 2
Um elf hatte Edmund einen Lehrer mit Burn-out empfangen und sich kaum auf den Mann konzentrieren können. Immer wieder waren seine Gedanken abgeschweift, hatte sich das Bündel Haut und Knochen auf der Sesselkante vor sein geistiges Auge geschoben. Er ärgerte sich, dass er nicht doch daheim angerufen hatte in den zehn Minuten zwischen den beiden Terminen. Nur kurz Patrizias Stimme hören, sie dabei vor sich sehen, wie sie heute war, eine attraktive, junge und vor allem gesunde Frau.
Der Lehrer erzählte ihm nichts, was er nicht schon drei Dutzend Mal gehört hatte. Trotzdem ließ er zur Vorsicht das Bandgerät mitlaufen und überspielte seine geistige Abwesenheit mit dem Standard-Prozedere für Situationen, in denen ihm sonst nichts einfiel. Dabei wiederholte er einen Satz aus dem Mund des Patienten und fragte anschließend: «Haben Sie eine Erklärung, warum das so ist?» Das zwang die Leute, selbst nach einer Antwort zu suchen. Manchmal traten bei der Methode neue Aspekte zutage. Diesmal nicht.
Um zehn vor zwölf verabschiedete Edmund den Lehrer und musste im Vorraum noch zwei Termine für die nächste Woche bestätigen. Dann ging Sybille Grandes in die Mittagspause. Der Kaffee für ihn stand schon auf dem Schreibtisch. Aber diesmal griff er zuerst nach dem Telefonhörer. Dabei wusste er nicht einmal, was er sagen sollte.
Patrizia würde ihn garantiert fragen, ob es einen besonderen Grund für seinen Anruf gab, weil er eigentlich nie Zeit für private Telefongespräche hatte, normalerweise auch
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