Hörig (German Edition)
dieser Dreckskerl.
Und in seinem Hinterkopf sagte Patrizia: «Ich stelle es mir schön vor, wenn ein Mensch mich so gut kennt, dass er in jeder Situation weiß, was ich denke und fühle. Wenn ich für ihn nicht nur irgendein Shirt trage oder irgendeinen Song höre. Wenn er genau weiß, dass dieses Shirt oder dieser Song für mich eine bestimmte Bedeutung haben. Für mich bedeutet das Sicherheit.»
Irgendein Shirt, dachte er, irgendein Song. Vor seinem geistigen Auge tauchten die abgezupften Blütenblätter der Margerite auf.
Sie liebt mich. Sie liebt mich nicht. Sie liebt mich
. Einfach mal nachzählen, nur ein Versuch.
Und es gab noch hundert andere Möglichkeiten. Im ganzen Haus gab es sie. Der Schweinehund hatte ihr garantiert auf die Finger gesehen, allzu deutlich hatte sie nicht werden dürfen. Musste sie auch nicht.
Edmund hörte sie fragen: «Gibt es eigentlich noch etwas an mir, was du nicht deuten kannst? Vielleicht fühle ich mich deshalb bei dir so wohl. Du weißt immer, was gerade in mir vorgeht, nicht wahr? Wenn du schon aus der Tatsache, dass ich diesen Pullover trage, ableitest, dass ich mich heute ein bisschen komisch fühle.»
Dazu hatte nicht viel psychologisches Einfühlungsvermögen gehört. Es war ein alter Pullover, den sie meist im Frühjahr und im Herbst bei der Gartenarbeit trug. Und wenn sie sich stundenlang im Garten beschäftigte, so lange, dass sie sich nicht mehr hatte umziehen können, bevor er heimkam, hatte sie einfach die Zeit vergessen. Dann war sie mit ihren Gedanken im Karbon gewesen oder im Perm oder noch weiter zurück. Dann hatte sie Sehnsucht gehabt nach Unschuld und von Menschen unberührter Welt, in der noch niemand etwas kaputt gemacht hatte.
Melanie, die sich bis dahin still verhalten hatte, erkundigte sich nun ängstlich und verunsichert: «Was ist denn mit Patty passiert?»
«Sie hat den Verstand verloren», gab Paul zurück.
Edmund wollte etwas sagen, aber er wusste nicht, was.
Sie hat den Verstand verloren
. Das war ihm wie ein Stich zwischen die Rippen gefahren. Er hätte dagegen protestieren müssen. Aber er brachte keinen Ton über die Lippen.
Wenig später verabschiedete er sich von Paul und seiner Nichte. Dorothea begleitete ihn. Melanie blieb zurück mit dem Auftrag, auf Opa aufzupassen. Sie nahmen Edmunds Wagen. Während der Fahrt schwiegen sie beide, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Edmund wollte sich eigentlich nach Gerda erkundigen, konnte sich jedoch nicht dazu aufraffen, weil er im Geist Patrizia wieder vor sich auf der Kante des Sessels im Sprechzimmer seiner Praxis hocken sah und sie sagen hörte: «Eines Tages werden wir dorthin gehen.»
Inzwischen wusste er zur Genüge, wovon sie damals gesprochen hatte. Nun fuhr es ihm wie ein elektrischer Schlag durch die Glieder. Riesige Wälder. Kanada oder Brasilien. Er musste die Fluggesellschaften anrufen!
Unsinn, Schwachsinn! Ganz abgesehen davon, dass er kaum eine Auskunft bekäme, hätte er sich ohrfeigen mögen für den Gedanken, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen.
Als sie das Haus betraten, war es fast acht Uhr. Dorothea blieb an der Küchentür stehen, betrachtete das benutzte Kaffeegeschirr, den Blumenuntersetzer und den Cognacschwenker auf dem Tisch mit einem langen Blick. Dann schaute sie Edmund an, misstrauisch und skeptisch. «Einfach geholt, wie du es eben ausgedrückt hast, hat Schramm sie ja wohl kaum. Die gemütliche Kaffeestunde hast du bisher mit keinem Wort erwähnt.»
Er zuckte nur mit den Achseln. Was hätte er darauf erwidern sollen? Obwohl er sich dagegen wehrte, gingen ihm die Wälder nicht mehr aus dem Sinn. Kanada oder Brasilien? In Kanada war Patrizia schon mit ihm gewesen. Dann musste es mit Schramm wohl Brasilien sein.
Bisher war er nicht davon ausgegangen, dass Patrizia das Haus mit einem Koffer in der Hand verlassen hatte. Das passte nicht zu seiner Vorstellung von Drohung und Gewalt. Aber dazu passten auch die Kaffeetassen und der Cognacschwenker nicht.
«Wie sieht es oben aus?», fragte Dorothea.
«Wie immer», sagte er. «Nur das Geld aus dem Schreibtisch ist weg, zweihundert Euro, also nicht die Welt.»
«Die Welt muss man ja auch nicht im Haus haben, wenn man die PIN -Nummer seiner ec-Karte im Kopf hat», sagte Dorothea. «Hast du ihre Karte sperren lassen?»
«Wann denn?», begehrte er auf.
«Ganz ruhig», mahnte Dorothea. «Es war nur eine Frage, kein Vorwurf. Eine nicht gesperrte Karte ist für uns besser. Wenn die Karte benutzt wird, kann man
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