Hoffnung am Horizont
viel. Ich weiß, dass er nicht nur
den Streit meint, sondern auch das, was ich in meiner Wut preisgegeben habe.
„Ja, mir auch.“, antworte
ich ebenso leise und lasse mich neben ihn fallen. Vorsichtig, als wäre er
unsicher, ob ich es ihm erlaube, legt er seinen Arm um meine Schultern und
zieht mich an seine Brust. Eine Weile sitzen wir ganz still. Ich höre seinen
Herzschlag und irgendwie wirkt er beruhigend auf mich. Ich fühle mich auf
einmal sicher, geborgen, als könnte niemand mir etwas anhaben, solange ich in
seinen Armen liege. Irgendwann bricht Gabe das Schweigen, er hat so viele
Fragen.
„Woher weißt du es? Ist
das der Grund, warum du nie zum Arzt gehst?“
Ich zögere lange, bevor
ich anfange zu sprechen.
„Ich weiß es schon mein
halbes Leben. Schwere Verletzungen des Uterus.“
Ich scheine keine Tränen
mehr zu haben, denn meine Augen brennen vor Trockenheit.
„Was ist passiert?“, hakt
er nach.
Diesmal zögere ich noch
länger. Kann ich Gabe so weit vertrauen? Kann ich ihm das Schlimmste erzählen,
was mir passiert ist? Wenn ich anfange zu sprechen, muss ich ihm alles
erzählen. Nur Annie und Chris wissen, was damals passiert ist, aber ich habe
das Gefühl, Gabe hat die Wahrheit verdient. So sehr es mich schmerzt, davon zu
sprechen, es ist lange her und eigentlich bin ich darüber hinweg. Ich hole tief
Luft und fange an.
„Mein Vater war Arzt. Er
hatte eine kleine Praxis direkt neben unserem Haus. Das wollte er so, damit er
meine Mutter und mich immer im Auge hat. Ich war schon damals zu dick und hatte
kaum Freunde und ich durfte auch nie jemanden mit nach Hause bringen, weil mein
Vater das nicht wollte. Er war ein Choleriker, wenn ihm irgendetwas nicht
passte, rastete er völlig aus. Meistens wussten wir es schon, wenn er aus der
Praxis kam. Er hatte dann immer seinen weißen Arztkittel anbehalten und das war
für uns wie ein Zeichen. Aber so sehr wir uns auch bemühten, wir konnten es ihm
nicht recht machen.“
Meine eigene Stimme klingt
fremd in meinen Ohren, unbeteiligt, als wäre es nicht meine Geschichte, die ich
hier erzähle, als würde ich ein Telefonbuch vorlesen.
„Es fing damit an, dass er
uns anschrie, aber es wurde mit der Zeit immer schlimmer. Irgendwann schlug er
meine Mutter das erste Mal. Nur eine Ohrfeige und er entschuldigte sich danach
sofort, aber ein paar Wochen später, schlug er sie erneut und dann immer
häufiger. Jedes Mal wurde es schlimmer, meine Mutter ging kaum noch vor die
Tür, weil sie von blauen Flecken übersät war. Irgendwann fing er an, auch mich
zu schlagen, da war ich knapp elf. Über ein Jahr lang verprügelte er mich immer
wieder und immer hatte er den weißen Kittel dabei an. Eines Tages, kurz nach
meinem zwölften Geburtstag, kam er früher aus der Praxis heim, ohne Kittel, und
erwischte meine Mutter dabei, wie sie mir ein Stück Schokolade gab. Wie gesagt,
ich war schon zu dick und er schämte sich für seine fette Tochter. Das reichte
also als Auslöser. Er ging zurück in die Praxis und holte den Kittel. Dann
verdrosch er uns beide. Erst meine Mutter, bis sie am Boden lag, dann trat er
sie. Immer wieder gegen den Kopf, bis sie sich nicht mehr rührte. Ich wollte
ihr helfen, aber er zog mich an den Haaren von ihr weg und prügelte wie
besessen auf mich ein. Er trat mich in den Bauch und sagte er würde das Fett aus
mir raustreten. Ich wurde irgendwann ohnmächtig vor Schmerzen und erst im
Krankenhaus wachte ich wieder auf. Eine Nachbarin hatte unsere Schreie gehört
und alarmierte die Polizei. Mein Vater wurde festgenommen, aber für meine
Mutter kam jede Hilfe zu spät. Sie war schon tot, als die Polizei eintraf. Ich
hatte schwere innere Verletzungen, unter anderem an der Gebärmutter. Schon
damals war klar, dass ich nie Kinder werde haben können.“
Gabe schweigt lange, als
ich fertig bin. Er hält mich fest und ich habe das Gefühl, ich spüre eine Träne
auf meiner Schläfe. Nach einer Weile fragt er: „Wie ging es dann weiter?“
„Mein Vater erhängte sich
wenige Tage nach der Tat im Gefängnis. Ich kam ins Heim, aber ich war natürlich
zu alt und nicht hübsch genug, als dass mich jemand hätte adoptieren wollen.
Dann ging ich in eine Pflegefamilie, aber ich war mittlerweile zu einem
aufsässigen Teenager geworden, der alle Angst regelrecht in sich hineinfraß und
gegen alles rebellierte. Sie kamen mit mir nicht klar und ich wurde
weitergereicht. Mit jeder Pflegefamilie wurde es schlimmer, ich klaute und
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