HOFFNUNG AUF DAS GROSSE GLÜCK
Mitleid. Gegen Kits starken Willen war der Mann völlig machtlos. Mit ein paar geschickten Worten hatte sein Bruder ihn im Handumdrehen aus dem Raum komplimentiert, und Emma war ohne Zweifel sehr dankbar dafür. Nicht, dass sie es auch nur eine Sekunde lang zeigte, denn kaum hatte sich die Tür hinter den beiden geschlossen, war sie bereits wieder damit beschäftigt, weitere Unterhaltung für ihre Gäste zu organisieren. Gleich würde sie bemerken, dass er fehlte, und dann …
Hugo schob eine Hand hinter den Vorhang, um den Fensterhebel zu lösen und in den Garten hinauszuschlüpfen. Er wollte Emmas Mitleid nicht. Sie würde ihn niemals so anschauen, wie sie es bei seinem grandiosen Bruder getan hatte. Heute Abend jedenfalls sollte sie ihn überhaupt nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Emma holte tief Atem und trat hinaus auf die Terrasse, während die schweren Vorhänge hinter ihr zufielen. Sie brauchte ein paar Minuten für sich und ein wenig frische Luft, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann würde sie zu ihren Gästen zurückkehren. Es würde sie bestimmt niemand vermissen. Die Gesellschaft im Salon war im Augenblick völlig in ein kindisches Lotteriespiel vertieft. Die jungen Damen kreischten jedes Mal vor Vergnügen, wenn sie gewannen. Sogar Mrs. Mayhew hatte zur Teilnahme überredet werden können, obgleich sie sich recht zurückhaltend verhielt. Und die Herren im Billardzimmer waren ebenfalls mit ihrer Partie beschäftigt. Vermutlich hatte Major Stratton sich zu ihnen gesellt. Lange Zeit hatte er lässig an der Wand gelehnt, sichtlich unberührt von ihrem Gesang, und plötzlich war er verschwunden gewesen. Zweifellos zog er die Aufregung beim Billard den harmloseren Zerstreuungen im Salon vor.
Sein Verhalten verletzte sie, das musste Emma sich eingestehen. Wohl wissend, dass er zuhörte, hatte sie all ihre unausgesprochenen Sehnsüchte in das Lied gelegt und sich ganz in die Lage des Bauernmädchens mit dem gebrochenen Herzen versetzt. Und diese Sehnsucht empfand sie noch immer, als gehörte ein Teil des besungenen Schmerzes zu ihr. Das war seltsam, denn nie zuvor hatte sie um eine Liebe weinen müssen. Aber vielleicht hatte sie bislang einfach niemanden geliebt.
Die Balustrade aus grauem Stein fühlte sich angenehm kühl an unter ihren Händen. Irgendwie beruhigend. Sie atmete die aromatische Nachtluft tief ein und versuchte, den Blumengeruch, der darin lag, zu erkennen, jedoch ohne Erfolg. Wenn sie die Quelle des köstlichen Duftes finden wollte, musste sie tiefer in den Garten hineingehen. Warum auch nicht? Es würde ja nur ein paar Minuten dauern.
Mit witternd gereckter Nase schlenderte Emma den Kiesweg entlang, beinahe wie im Traum. Mit jedem Schritt wurde der Duft stärker, betäubender. Plötzlich blieb sie stehen. Ja, hier! Sie schloss die Augen und drehte sich langsam um die eigene Achse, genoss es, zu fühlen, wie die seidenen Unterröcke zu schweben schienen und sich dann wieder an ihre Beine schmiegten. Als würden Hände über ihre Haut streichen. Sanfte, zärtliche Männerhände …
Sie hielt inne, um noch mehr von dem schweren Duft einzuatmen. Dieser seltsame Ort war wie dazu gemacht, bei Mondschein besucht zu werden. Weiße, trompetenartige Blüten schimmerten geheimnisvoll an fast unsichtbaren Stängeln. In der Mitte hingen blassrosa Rosen von einem großen Bogen herunter. Darunter stand die Marmorstatue einer heidnischen Göttin in stiller Würde. Die Ligusterhecken dahinter ragten dunkel und bedrohlich auf, schützten die lauschige Grotte gegen unerwünschte Eindringlinge. War dies der geheime Garten aus dem Märchen, den man nur einmal im Leben fand, und nur dann, wenn man liebte?
Denn sie war verliebt. Verliebt in Hugo Stratton. Es war, als hätte sie das schon ihr ganzes Leben gewusst.
Sie pflückte einen der bezaubernden weißen Kelche und sog den Duft tief in sich ein. Einen Augenblick lang war ihr, als schwebte sie über dem Boden und schaute hinunter auf sich selbst, wie sie zwischen den Blumen einherging. Sie hob die Hand und zog einen Rosenzweig zu sich hinunter, fasziniert von der schlichten Makellosigkeit der Blüten. Waren sie weiß – oder blassrosa? Es spielte keine Rolle. Im silbrigen Licht des Mondes wirkten sie überirdisch schön. Sie streichelte eine der zarten, halb geöffneten Knospen, bestaunte ihre samtige Weichheit, ihre kühle Glätte.
Wäre Hugo hier – und wäre er so verliebt wie sie –, würde er diese Rosen pflücken und sie ihr zu Füßen legen. Er
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