Hohlbein Wolfgang - Die Chronik der Unsterblichen 1
hätte, hätten womöglich Andrejs eigene Gedanken einen Weg eingeschlagen, den er nicht beschreiten wollte.
»Ich glaube dir nicht.« Frederic schien doch ein wenig verunsichert zu sein. »Ich … ich habe gesehen, wozu du fähig bist!«
Andrej schloß die Augen und atmete tief durch, ehe er antwortete. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Er mußte achtgeben, nicht Dinge zu sagen oder auch nur zu denken, die er vielleicht später bereuen würde.
»Ich habe nie einen Menschen getötet, und ich werde nie einen Menschen töten, außer um mein Leben oder das eines anderen zu retten«, sagte er ruhig. »Du hast in einem Punkt recht, Frederic: Ich habe viele Jahre meines Lebens damit verbracht, den Schwertkampf zu erlernen. Und ich hatte den besten Lehrer, den es jemals auf dieser Welt gegeben hat. Doch er hat mich nicht nur gelehrt, mit dem Schwert umzugehen; er hat mich noch etwas anderes gelehrt … etwas viel Wichtigeres: Ehrfurcht.«
»Vor wem?«
»Vor dem Leben, Frederic. Dem einzigen Gut, das auf dieser Welt überhaupt irgendeinen Wert hat. Niemand hat das Recht, ein Menschenleben einfach so auszulöschen. Ich nicht, und du auch nicht.«
»Aber Vater Domenicus«, erwiderte Frederic spöttisch. »Wie konnte ich das nur vergessen! Er handelt ja in Gottes Namen! Warum hast du Barak das nicht gesagt? Ich bin sicher, er hätte die zwei Tage genossen, die dieses … Vieh ihn hat foltern lassen!«
Der Haß, der in Frederics Stimme zitterte, ließ Andrej erschauern. Es war nicht richtig, daß ein Kind einen solchen Haß empfand.
»Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt«, fuhr der Junge leise fort. »Aber wenn, dann handeln Männer wie Domenicus nicht in seinem Namen. Sie behaupten es, aber es ist nicht wahr … Er hatte den Tod verdient!«
»Er hatte mein Wort«, antwortete Andrej. »Du hast mich entehrt, indem du es gebrochen hast.«
Frederic verdrehte die Augen, aber Andrej schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. Er hatte endgültig begriffen, daß Frederic nicht verstehen wollte, was er ihm zu sagen versuchte. Und vielleicht hatte der Junge ja sogar recht. Vielleicht war er, Andrej, derjenige, der sich irrte, vielleicht war die alttestamentarische Vorstellung von Rache und blutiger Vergeltung, die Frederics Handeln und Denken bestimmte, die richtige Reaktion auf das, was im Tal und im Wehrturm von Borsã geschehen war. So oder so: Andrej wollte nicht darüber nachdenken und änderte seine Taktik.
»Dir ist anscheinend nicht klar, was du getan hast«, fuhr er fort.
»Ich habe einen Mann getötet, der es verdient hat«, antwortete Frederic trotzig. »Du warst ja zu feige dazu!«
»Du hast mehr als das getan«, sagte Andrej ernst. »Wir haben jetzt praktisch keine Chance mehr, die Menschen aus deinem Dorf zu befreien. Falls sie überhaupt noch am Leben sind.«
Diesmal erschrak Frederic wirklich. »Was … soll das heißen?« fragte er stockend.
Andrej lachte bitter. »Du weißt es nicht besser«, bemerkte er leise. »Woher auch? Aber das alles ist nicht so leicht zu erklären, wie du denkst. Du hast mich gefragt, wie lange ich gebraucht habe, um das Kämpfen zu lernen. Lange. Viel länger, als selbst Ritter mit ihren Waffen trainieren. Aber es ist nicht damit getan, ein Schwert führen zu können.«
Er zog das Sarazenenschwert, drehte die Waffe herum und hielt Frederic den geschliffenen Elfenbeingriff hin. »Du willst es lernen?« fragte er. »Nimm es. Es dauert ein Jahr, bis du gut bist, und zwei, bis du mich fordern kannst. Aber das ist längst nicht alles. Es ist nicht einmal das Wichtigste. Es gibt Regeln, Frederic: Man bricht sein Wort nicht; nicht einmal seinem Todfeind gegenüber. Ja, gerade einem Feind gegenüber bricht man es nicht.«
Frederic betrachtete die Waffe auf eine Art, die Andrej schaudern ließ. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob die Saat der Gewalt in dem Jungen nicht schon längst aufgegangen war. Und schlimmer noch: Was, wenn die Ereignisse der letzten Tage nur Beschleuniger einer gefährlichen Veranlagung gewesen waren? Wenn dieser Junge einfach böse war; noch ein Kind zwar, das jedoch schon den Keim in sich trug, zu einem Menschen herangewachsen, der vielleicht auf andere Weise ebenso grausam und gnadenlos wie Domenicus oder der goldene Ritter in dessen Gefolge war?
Andrej wußte buchstäblich nichts über Frederic, kaum mehr als seinen Namen. In seinem Bemühen, möglichst wenig von seiner eigenen Geschichte und vor allem von seinen Familienbanden preiszugeben, war er jedem
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