Hokus Pokus Zuckerkuss
ist auch Moms Gynäkologin. Aber kannte sie Gran? Das kommt mir unheimlich vor.
Nie zuvor habe ich an die Vagina meiner Großmutter gedacht. Ich will nicht an die Vagina meiner Großmutter denken. Nicht hier, bei ihrem Trauergottesdienst. In einer Kirche. Während ich ein Bibelzitat vortrage.
»Jesus sprach zu seinen Jüngern …«
Wow, wie laut meine Stimme klingt! Warum lese ich was über Jesus? Wenn es auf dieser Welt eine gewisse Gerechtigkeit gibt, ist Gran jetzt sowieso bei Jesus. Aber wahrscheinlich eher bei Elvis, so wie Chaz gesagt hat, in der Hölle. Falls eine Hölle existiert. Und wenn Elvis dort ist, was ich keineswegs behaupte. Schätzungsweise ist die Hölle viel interessanter als der Himmel. Nicht so langweilig. Ich wette, Gran wäre lieber in der Hölle.
»›Hütet euch aber, dass eure Herzen nicht beschwert werden …‹«
Offen gestanden, ich wäre lieber in der Hölle. Ich
meine, Elvis ist da. Und Shakespeare. Und Einstein. Und Gran. Und Chaz.
»Wisst ihr was?«
O Gott, alle starren mich an. Und Mom schaut drein, als würde sie jeden Moment einen Herzanfall kriegen. Nun, sie hätte mich nicht zwingen sollen, diesen Text vorzulesen, sie hätte wissen müssen, was passieren würde.
»Mein Herz ist beschwert«, fahre ich fort und lege den Zettel mit dem Bibelzitat auf das Pult. »Weil ich glaube, meine Großmutter würde bei ihrem Trauergottesdienst nichts von alldem hören wollen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich finde diese Worte sehr schön«, versichere ich dem Geistlichen, der alarmiert die Stirn furcht. (Allerdings scheinen die Ministranten die unerwartete Wende der Ereignisse zu genießen. Unter ihren gestärkten weißen Roben ragen schmutzige Sneakers hervor.) »Ich bezweifle nur, dass irgendetwas, das bisher bei dieser Messe gesagt wurde, mit meiner Großmutter zusammenhängt. Deshalb nahm ich mir die Freiheit, heute Morgen einen anderen Text vorzubereiten«, füge ich hinzu und ziehe ein anderes Blatt Papier aus der Tasche meiner schwarzen Vintage-Jacke, auf das ich ein paar Zeilen geschrieben habe. »Diese Worte stammen aus einem Song, der meiner Großmutter sehr gut gefiel. Keine Angst, ich werde nicht singen …« Ich sehe meine Schwestern erleichtert aufatmen. »Aber ich denke, wir sollten das Andenken einer lieben Verstorbenen ehren, indem wir erwähnen, was ihr wirklich wichtig
war. Und meine Gran mochte diesen Song, das weiß ich. Also, Gran, das ist für dich. Wo immer du auch bist.«
Und dann falte ich den Zettel auseinander.
»›Season ticket, on a oneway ride …‹«
Ich riskiere einen kurzen Blick auf mein Publikum. Mit großen Augen starrt mich die versammelte Gemeinde an. Meine Mutter blinzelt benommen. Aber Dad schenkt mir ein schwaches Lächeln, das immer breiter wird, während ich meinen Vortrag fortsetze.
»›Nobody’s gonna slow me down … I’m on the highway to hell.‹«
Jetzt lächeln noch ein paar Leute. Angelo. Und Chuck. Sogar Sarahs Lippen zucken ein kleines bisschen.
Sonst niemand. Abgesehen von Chaz, der übers ganze Gesicht grinst und seinen Daumen hochreckt.
Ich grinse zurück.
»Danke«, sage ich höflich zur Gemeinde. Und dann verlasse ich das Pult.
»Interessant, was Sie da vorgelesen haben«, meint Dr. Lee, meine ehemalige Gynäkologin. Eine Stunde nach dem Begräbnis sind wir ins Haus meiner Eltern zurückgekehrt und haben den Trauergästen Erfrischungen serviert.
»Danke.« Ich halte einen Plastikteller in der Hand. Darauf habe ich möglichst viele verschiedene Kekse gehäuft – alle, die ich finden konnte. Und das ist eine ganze Menge, weil besorgte Freunde und Nachbarn
während der letzten Tage mit Selbstgebackenem in rauen Mengen vorbeigekommen sind.
Diese Kekse teile ich nicht mit anderen, die esse ich alle selber.
»Die Kinks?«, erkundigt sich Dr. Lee.
»Nein, AC/DC.«
»Ah, natürlich. Wie dumm von mir.«
Dr. Lee wandert davon, und Chaz schlendert heran, um den Platz an meiner Seite einzunehmen. Auf seinem Plastikteller liegen zwei verschiedene Samosas, koreanische Grillspieße, Chicken Satay und kalte Sesamnudeln. Offenbar hat er den Tisch besucht, wo die Studenten meines Dads ihre Gaben deponiert haben.
»Nun, wie läuft’s?«, will er wissen.
»Großartig. Meiner Gynäkologin hat mein Vortrag gefallen.«
»Dann sind wir schon zwei.«
»Zwei?«
»Mir hat diese Lesung auch gefallen«, erklärt er und nagt am Chicken Satay.
»Oh. Okay. Auch Dad war begeistert. Und Chuck und Angelo. Und ich glaube, Sarah
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